Der Augenblick der Liebe
dachte er, ist und bleibt das Mädchen.
IV.
Kehre
I.
Der Friseur sagte: Darf ich Ihnen das anreichen? Und hielt ihm, nach dem Haarewaschen, ein kleines Handtüchlein hin, womit er sich die Augen auswischen konnte, falls Shampoo hineingekommen sein sollte. Gottlieb sprang nicht auf, erhob sich aber doch sehr plötzlich, legte das Geld auf den Kassentisch und ging. Gerade, daß er noch die umgehängten Tücher loswerden konnte. Was es zur Zeit kostete, wußte er. Seit fünfundzwanzig Jahren kam er in dieses Geschäft. Aber jetzt nicht mehr. Nie mehr. Darf ich Ihnen das anreichen. Hatte der das fünfundzwanzig Jahre lang gesagt, und Gottlieb war dieser Satz fünfundzwanzig Jahre lang nicht auf die Nerven gegangen? Dann war es höchste Zeit, daß er reagierte.
Sobald er draußen war, rannte er. Er hatte Angst, er könne umkehren und sich bei seinem Friseur, der ja wahrhaft sein Friseur war, entschuldigen. Anna sagte er nichts von dem plötzlichen Aufbruch im Friseurgeschäft. Was der Friseur über ihn dachte, durfte ihn nicht kümmern. In ihm breitete sich eine Art Zufriedenheit aus: Er hatte getan, was er wollte. Er hatte sich einmal nicht mehr ganz beherrscht. Er fühlte sich fast wie in der Badewanne. In der er nie lag, weil er von Anfang an nicht baden, sondern nur duschen gelernt hatte. Alles falsch sehen, das wollte er. Das wollte er dürfen. Keiner Erwartung entsprechen.
Schluß mit entsprechen. Don¹t rise to the occasion. Und gestand sich jetzt doch ein, daß der cholerische Anfall nicht vom Friseur provoziert worden war und nicht dem Friseur gegolten hatte. Sein Spiegelbild war es. Er hielt sein Spiegel bild nicht mehr aus. Eine halbe Stunde dieser Fratze ausgesetzt zu sein −, das war unzumutbar. Was die Jahre in seinem Gesicht angerichtet hatten, das mußte er nicht auch noch anschauen. Dreißig Minuten, achtzehnhundert Sekun den lang, präsentiert von einem kristallscharfen, alles entblößenden Friseurspiegel. Er mußte einen Friseur finden, der ihm die Haare vor einem verhängten Spiegel schnitt. Basta.
Als er noch fünfzig Meter von zu Hause entfernt war, überholte ihn Anna. Sie fuhr winkend vorbei, ließ das Ga ragentor offen, war glücklich, weil der Rechtsanwalt aus Göppingen jetzt endlich den Vorvertrag für das Bauernhaus in Wintersulgen unterschrieben hatte. Und das vielleicht nur, weil sie ihm für seine Analthrombose zu einer Blutegelsalbe geraten hatte, und die hatte inzwischen gewirkt, der Kunde ist geheilt.
Gottlieb schaute zu, wie sie Pflänzchen auspackte, die sie für ihren Kräutergarten gekauft hatte. Wollte er gesund sein? Solange er gesund war, bezweifelte er das. Er langte an die Warze, die er im Nacken am Haaransatz hatte, besah seine Fingerspitze, sie war blutig. Er langte noch einmal hin. Seine Warze blutete. Zum Glück war Anna mit ihren Kräutern beschäftigt. Dr. Matusaka hatte gesagt, für die Lähmung könne ein Bronchialkrebs in Frage kommen. Aber seine Stimme war vollkommen gesund. Der Doktor hatte Gottlieb geraten, einen halben Ton tiefer zu sprechen, als er es gewohnt war. Es sei am Anfang ein bißchen beschwerlich, tiefer zu sprechen, als man es gewohnt sei, aber man könne das zur Natur werden lassen. Gottlieb hatte den einzigen Rat des japanischen Arztes, den er befolgen wollte, vergessen gehabt. Und es tat sofort gut, tiefer zu sprechen. Es ent spannte, verlangsamte. Anna merkte es gleich. Er klärte sie auf. Ihr leuchtete diese Umstellung
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