Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
Vom Netzwerk:
sorgfältig mein Gesicht. Es war ein übliches Agenturbild, 26 x 36 cm. Es war scharf, aber offensichtlich die Kopie eines Bildes, kein Abzug direkt vom Negativ. Auf dem Foto sah man eine junge blonde Frau, die mit zusammengekniffenen Augen etwas schräg rechts neben den Fotografen schaute. Sie hatte langes glattes Haar, das über die Schultern fiel und genau über den Brauen abgeschnitten war.
    Das Foto mußte um 1970 aufgenommen worden sein. Viele Mädchen hatten damals diesen Marianne-Faithfull-Schnitt. Sie trug ein nicht ganz zugeknöpftes Blümchenhemd. Ihre Blue Jeans, denn solche waren es wohl, hatten einen schmalen Gürtel.
    Sie lächelte. Ein Vorderzahn war etwas schief, aber das machte ihr Lächeln nur noch reizender. Im Hintergrund erkannte man die Konturen einiger Fischkutter. Sie hielt den oberen Teil eines Gitarrenhalses mit einem Griff, der einen Akkord andeutete. Es war Sommer. Es war ein charmantes, fröhliches Bild. Am linken Rand sah man einen bärtigen Mann, der das Mädchen bewundernd anlächelte. Seine Blickrichtung in Verbindung mit dem Wimpel auf einem der Kutter verlieh dem Bild einen Goldenen Schnitt, so daß der Blick des Betrachters unwillkürlich auf die Augen und den lächelnden Mund des Mädchens gelenkt wurde. Ich hatte das Gefühl, sowohl sie als auch das Foto schon einmal gesehen zu haben, aber ich konnte es überhaupt nicht einordnen.
    Ich sah Clara Hoffmann an.
    »Ein schönes Bild«, sagte ich.
    Sie drehte das Foto um. Am Copyrightstempel erkannte ich, daß es von POLFOTO stammte. Aber sie hatte es nicht deshalb umgedreht. Unten stand mit schrägen, handschriftlichen Buchstaben: Limes Foto? Ich schaute auf, und Clara Hoffmann sah mir in die Augen.
    »Eben«, sagte sie. »Limes Foto. Fragezeichen. Und Lime, das mußt du sein.«
     
    Das Foto geisterte in meiner Erinnerung herum. Ich suchte den Bildtext, aber da stand nur maschinengeschrieben: Bildtext nicht auffindbar, vermutlich Dänemark 15. Juni 1970.
    »Ich habe Tausende und Abertausende Bilder in meinem Leben aufgenommen«, sagte ich und nahm ihr das Foto aus der Hand. Ich las noch einmal die handgeschriebenen Worte und das Datum: 15. Juni 1970. Ich wußte, ich kannte das Mädchen auf dem Bild, aber ich behielt meine Gedanken für mich. Es liegt in meiner Natur, Informationen zurückzuhalten. Jedenfalls bis ich weiß, was der Empfänger damit anfangen will. Es war ja auch einige Jahre her.
    »Du hast natürlich rein zufällig so ein Foto bei dir. Auf dem Weg in die Stadt«, sagte ich statt dessen.
    Sie lächelte wieder, während sie mich weiterhin aufmerksam betrachtete.
    »Wenn man gern in einer fremden Stadt als alleinstehende Frau in Frieden essen gehen will und offiziell aussehende Papiere aus seiner Mappe zieht und die Lesebrille aufsetzt, dann, sagt mir meine Erfahrung, hält einem das die schlimmsten Typen vom Leibe.«
    »Okay«, sagte ich. »Ist sie das?«
    »Laila Petrowa, ja. Als junge Frau.«
    »Sie heißt nicht Laila«, sagte ich und erinnerte mich. »Sie heißt Lola. Nielsen. Jensen. Petersen. Irgendein Allerweltsname.«
    »Also ist es dein Foto?«
    »Ich glaub schon, ja. Ich glaube.«
    Ich trank mein Wasser aus.
    »Aber warum ist das ein Fall für den Polizeilichen Nachrichtendienst? Ist das nicht eher ein Fall für die Betrugsabteilung?«
    »Wer ist der Mann auf dem Bild?« fragte sie. Ich betrachtete ihn. Er war auch um die Zwanzig, vielleicht jünger. Aber er war nicht im Fokus, das hätte die Bildkomposition zerstört. Nicht zufällig war er leicht verschwommen, damit das Hauptmotiv klar im Vordergrund stand. Er hatte einen schwarzen Vollbart und einen halblangen Pagenschnitt. Seine Zähne waren gerade und weiß. Er trug einen dunklen, wahrscheinlich blauen Anorak.
    »Ich weiß es nicht«, sagte ich. »Interessiert ihr euch für ihn?«
    »Laß uns einfach sagen, wir sind interessiert an ihr und deswegen auch an Limes Bild.«
    Ich gab es ihr zurück.
    »Ich kann euch nicht helfen.«
    »Ich dachte, daß du vielleicht das Negativ hättest. Und daß es noch andere Fotos auf dem Film geben muß.«
    »Wenn es mein Bild ist, habe ich das Negativ möglicherweise.
    Wenn ich das Negativ habe, kann ich es womöglich finden.
    Wenn ich es finde, gibt es vielleicht andere Bilder. Wer ist der Mann?«
    »Er wird seit über zwanzig Jahren gesucht. Er ist Deutscher.
    Einer seiner vielen Namen ist Wolfgang. Er war in der Roten Armee Fraktion. Er wird auf der ganzen Welt wegen Mord, Brandstiftung, Bankraub und Entführung

Weitere Kostenlose Bücher