Der Augenblick der Wahrheit
mir andere Gesichter aus der Zeit ins Gedächtnis zu rufen, aber sie zerflossen in langen Haaren und Bärten, Nietenhosen mit Schlag, Gemeinschaftsbad, nackten Brüsten in der Sonne, Kindern, um die sich niemand kümmerte, Diskussionen über Politik und Gesellschaft, Parkas, immer gleichen T-Shirts, Kings-Zigaretten und Frauen mit lila Wickeltüchern auf dem Kopf.
Ich stand auf und ging in mein Atelier, um die Fotos aus Katalonien zu entwickeln und zu vervielfältigen, damit Oscar nicht enttäuscht war, wenn er ganz sicher am frühen Vormittag auf der Matte stand, um meinen neuesten Scoop zu bewundern.
Das konnte ich besser als jeder andere: mich an die Beute heranschleichen und sie in all ihrer Nacktheit enthüllen.
3
Oscar kam gegen zehn.
Wie gewöhnlich hatte ich kurz nach sieben für Maria Luisa und Amelia Frühstück gemacht. Wie die meisten Madrider kamen wir immer spät ins Bett und waren früh wieder auf. Das war der Rhythmus der Stadt. Dafür versuchten wir, uns nachmittags etwas hinzulegen. Wir lebten ja sehr spanisch, morgens nahmen wir nicht viel zu uns. Ein großes Glas starken Kaffee mit Milch für Amelia und mich und ein Glas Milch und ein Weißbrot mit mildem Käse für Maria Luisa. Sie hatte gerade ihre Schleifenphase, sie bändigte ihr dunkles Haar mit rosa oder kunterbunten Bändern, die im Kontrast zu ihrer adretten blauen Schuluniform standen. Vom Platz drang die morgendliche Symphonie der Autos zu uns herauf, der metallenen Schutzgitter, die hochgezogen wurden, das Röhren der Motorradauspuffe, Rufe und das Gepolter schwerer Lastwagen, die die Bars und Geschäfte belieferten. Amelia trank ihren Kaffee in vorsichtigen Schlückchen. Jeder Morgen war neu für mich. Jeden Morgen war es ein kleines Wunder, daß sie noch dasaß. Amelia hatte Jeans und eine Hemdbluse an, ihre Arbeitskleidung, und ein dezentes Make-up aufgelegt. Wir sahen uns an und dachten an unsere nächtliche Umarmung.
Morgens sagten wir nicht sehr viel. Das brauchten wir nicht.
Wir frühstückten in der Küche in angenehm schläfrigem Schweigen, im Hintergrund das Radio mit Sport und Nachrichten und den Verkehrsmeldungen, und dann zogen meine Lieben in die Welt hinaus. Wenn sie morgens das Haus verließen, hatte ich oft ein irrationales Gefühl des Verlustes. Ich hatte Angst, sie zu verlieren. Ich scheue mich nicht zu sagen, daß die beiden der Sinn meines Lebens waren.
Oscar fand es ein bißchen lächerlich und ziemlich unverständlich, daß ich so ein bürgerlicher Familienmensch geworden war, aber vermutlich war er auch ein wenig neidisch.
Er fürchtete die Langeweile und brauchte immer stärkere Stimulanzen, um sie zu bekämpfen. Ich meine nicht Alkohol oder Drogen in größeren Mengen, obwohl er dem streckenweise nicht aus dem Weg gegangen war, freilich mit katastrophalen Konsequenzen und anschließender Entziehung. Sowohl Speed wie Kokain hatten Oscar in ihren Klauen gehabt. Aber den größten Kick brachten ihm Abenteuer: Grenzen waren für ihn zu durchbrechende Linien, er war wie ein General, der stets nach den Schwächen in der gegnerischen Verteidigung Ausschau hielt. Er mußte sich ständig selbst bestätigen, daß er immer noch jung war. Oscar war immer ein Schürzenjäger gewesen, und als er jünger war, hatte das wegen seines großen Erfolgs auch etwas Charmantes, aber jetzt, da wir uns den Fünfzig näherten, hatte seine konstante Eroberungsmanie eher einen Hauch von Verzweiflung. Er gab ja auch zu, daß er in der Hinsicht nicht mehr so aktiv war, aber daß es ihm wichtig war, sich zu beweisen. Er hatte einen Schock bekommen, als er die Vierzig erreichte und entdeckte, daß ihn viele junge Frauen als alten Mann betrachteten. Ja, sogar als alten Lüstling. Gloria hatte ihn mehrere Wochen lang bedauert, bis sie noch einmal Frieden schlossen. Sie konnten nicht ohne einander. Außerdem waren sie durch gemeinsame Geschäfte verbunden. Irgendwie waren sie wie kommunizierende Röhren. Ohne die eine wäre die andere unbrauchbar.
Ich ging in die Bar an der Ecke hinunter, las El Pais und trank noch einen Kaffee. Die Basken lagen nach wie vor miteinander und mit dem spanischen Staat im Krieg. Am Abend zuvor hatte die ETA einen spanischen Polizeibeamten in Bilbao getötet.
Eine junge Frau war ermordet aufgefunden worden, mit einem Schuß durch den Mund. Ein Zeichen dafür, daß sie gesungen hatte. Einige Wochen vorher hatten sie einen jungen baskischen, moderat nationalistischen Stadtrat ermordet, weil der Staat
Weitere Kostenlose Bücher