Der Augenblick der Wahrheit
los, nestelte mir eine Zigarette heraus und zündete sie an.
»Ich weiß es nicht. Ich hab keinen blassen Schimmer«, sagte ich.
»Sie will wieder anrufen, sagte sie.«
»Ich werd mit ihr reden.«
»Hast du Hunger?« fragte Amelia. »Sollen wir ausgehen? Ein paar Tapas essen?«
»Ich bin nicht besonders hungrig. Ich möchte lieber zu Hause essen. Laß den Kleinen noch zehn Minuten.«
Wir saßen Arm in Arm und redeten über alles und nichts.
Amelia war Lehrerin und arbeitete mit psychisch behinderten Kindern in einem Heim. Sie bekam ein miserables Gehalt und brauchte die Arbeit eigentlich nicht, aber sie würde auch dann kaum darauf verzichten, wenn sie ihr gar keinen Lohn mehr zahlen würden. Sie war ein Mensch, der große Befriedigung dabei empfand, selbst kleinste Fortschritte mitzuerleben. Sie erzählte von einem der Kinder, das sich nun immerhin durch einen Comic hindurchbuchstabieren konnte. Der Junge war fünfzehn und ein hoffnungsloser Fall, aber für Amelia war es Erfolg genug, daß er nach drei Jahren Arbeit imstande war, eine Sprechblase zu lesen. Mich hätte es in ihrem Job keine Stunde gehalten. Ich genoß es, ihr zuzuhören und zu spüren, wie Ruhe einkehrte.
Eine Frau um die Vierzig näherte sich unserer Bank. Sie trug einen blauen Rock, der genau über dem Knie endete, und eine passende blaue Jacke über einer weißen Hemdbluse. Sie hatte roten Lippenstift und etwas Schwarz um die Augen aufgelegt.
Ihr Haar war zurückgekämmt. Das gab ihrem Gesicht einen jungfernhaften, strengen Ausdruck, aber ihre Augen waren freundlich.
»Peter Lime?« fragte sie.
Sie sprach meinen Namen dänisch aus. Amelia erhob sich. So hörte sie meinen Namen nur sehr selten.
»Clara Hoffmann«, sagte die Frau und streckte die Hand aus, wie unter Dänen üblich. Ich stand auf und drückte sie. Ihre Hand war trocken und schmal, aber kräftig.
»My wife«, sagte ich und sprach englisch weiter. »Das ist Clara Hoffmann, Amelia. Aus Kopenhagen.«
Die beiden Frauen gaben sich die Hand und musterten sich.
»Dann haben wir am Telefon miteinander gesprochen«, sagte Clara Hoffmann.
»Ich hatte neulich Ihren Namen nicht richtig verstanden«, sagte Amelia in ihrem langsamen, aber überaus korrekten Englisch. »Namen mit H fallen uns Spaniern nicht so leicht.«
»Sie müssen entschuldigen, daß ich mich so aufdränge«, sagte Clara Hoffmann. Ihre Stimme war sehr hell und jung und paßte eigentlich nicht zu ihrem Alter. »Ich wollte mir an dem schönen Abend nur die Beine vertreten, und da habe ich Ihren Mann gesehen … so daß …«
»Woher wußten Sie …?« fragte ich.
»Ich habe Fotos von Ihnen gesehen. Da waren Sie zwar noch jünger, aber Sie haben sich kaum verändert.«
Amelia wandte sich zu mir und sagte: »Warum geht ihr nicht rüber ins Alemana, während ich die Kinder hochbringe, dann könnt ihr ein bißchen dänisch reden?«
Gute Idee. Bringen wir die Sache hinter uns. Leute loszuwerden ist immer einfacher, wenn man ihnen einen Drink spendiert hat. Aber Amelia hatte es auch gesagt, um freundlich zu sein. Für sie war es natürlich, daß wir vielleicht gern dänisch miteinander reden wollten. Amelia wurde vom EnglischSprechen immer fürchterlich müde, selbst wenn es nur ganz kurz dauerte. Sie war ein häuslicher Mensch, der nur ungern Madrid verließ, es sei denn, wir fuhren in unser Sommerhaus in die grünen Berge des Baskenlands.
»Okay«, sagte ich und küßte meine Frau noch einmal. Sie sah ein wenig überrascht aus. Sie konnte diese Art Liebkosung vor einer fremden Frau nicht leiden, aber gleichzeitig freute sie sich auch darüber, daß ich meine Liebe offen zeigte. Amelia nahm meine Reisetasche. Sie war nicht schwer. Sie wußte, daß ich meine Fototasche niemals aus der Hand gab.
»Hier lang«, sagte ich auf dänisch und führte Clara Hoffmann in die Cervezeria Alemana auf der anderen Seite des Platzes. Sie hatte flache Schuhe an und reichte mir nur bis zu den Schultern.
Sie duftete nach einem milden, gut riechenden Parfüm.
»Hier ist es aber hübsch«, sagte sie.
»Ja«, sagte ich und ging auf den braunen Eingang des Cafés zu. Wir stiegen eine Stufe hinunter. Das Café war fast voll, aber zufällig erhoben sich am Fenster drei junge Leute, und mit leichtem Druck geleitete ich Clara Hoffmann an den Tisch. Die Tische waren aus weißem Marmor. Wie in allen alten spanischen Cafés war der Lärmpegel hoch. Von der Decke über der Bar hingen Serranoschinken, und zwei Barkeeper machten Kaffee,
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