Der Augenblick der Wahrheit
gefangene ETA-Leute nicht freilassen wollte. In den baskischen Provinzen waren Wut und Ohnmacht überwältigend gewesen.
Über eine Million Menschen hatten in Bilbaos Straßen demonstriert. Ein paar Tage später hatten 30000 ETA-Sympathisanten in San Sebastian eine Gegendemo veranstaltet.
Es war, als wütete ein Bürgerkrieg. Die Morde wollten kein Ende nehmen. In regelmäßigen Abständen detonierte in Madrid eine Autobombe. Das rief jedesmal eine ungeheuer gereizte Stimmung hervor, und Angst legte sich über die Stadt. In meiner Jugend, unter General Francos Diktatur, hatte ich die ETA-Leute als Freiheitskämpfer empfunden. Jetzt, in einer Zeit, in der Europas Grenzen nur noch als Linien in alten Atlanten existierten, waren sie verblendete junge Leute, ein Anachronismus. Bodensatz der barbarischen Ideologien des 20.
Jahrhunderts.
Ich nahm die Zeitung mit nach Hause, um auf Oscar zu warten, der, wie ich wußte, gespannt darauf war, die Bilder zu sehen. Ich selber hatte eher ein ungutes Gefühl. Ein Teil meines Berufsgeheimnisses bestand darin, daß offiziell keiner wußte, daß ich der Fotograf war. Meine Bilder wurden von der Agentur verkauft. Aber die Leibwächter des Ministers hatten mich und das Kennzeichen meines Mietautos gesehen. Plötzlich riskierte ich, selber ins Scheinwerferlicht der Medien zu geraten, und obwohl ich von dem enormen Hunger der Medien und der Gier der Öffentlichkeit nach dem Leben und Unglück anderer Menschen lebte, hegte und pflegte ich mein Privatleben beflissener als ein König.
Als es klingelte, erkannte ich sofort Oscars insistierende Art, den Klingelknopf zu drücken. Geld war für ihn ein ebenso starkes Aphrodisiakum, wie es früher mal ein wohlgeformter Arsch gewesen war. Es konnte ihn auf Trab bringen.
Ich hob den Hörer der Gegensprechanlage ab.
»Ja, Oscar«, sagte ich und drückte den Türöffner.
Wir hatten uns in dem erstaunlichen Frühjahr 1977
kennengelernt, in dem sich Spanien so kolossal veränderte. Die Umwälzungen in Spanien in jenem Jahr waren ebenso einschneidend wie die, die 1989 beim Fall der Berliner Mauer in ganz Europa geschahen. 1977 gab es zwei Nationen in Europa, die nicht in irgendeiner Form an der europäischen Zusammenarbeit teilnahmen: Albanien und Spanien. In jenem Frühjahr, knapp zwei Jahre nach Francos Tod im Siechbett, waren wir uns mitten in der Nacht in einer kleinen Bar in der Calle Echégaray begegnet, wo ich weiter oben in der Straße in eine kleine Pension gezogen war. Er dominierte das kleine Lokal, das eine der wirklich alten Bars von Madrid war. Die Wände waren mit gelben, ornamentierten Kacheln verkleidet.
Die Tische und Stühle waren klein und aus hartem Holz, so daß man mehr als unbequem saß, aber sie servierten einen phantastischen Wein und hatten bis zum frühen Morgen geöffnet. Drei bankrotte andalusische Zigeuner versuchten, zu singen und Flamencoheder zu klatschen. Dem Vorsänger fehlten zwei Schneidezähne, der Rest war aus Gold. Mit verrauchten Stimmen sangen sie No te vayas todavia und klatschten dazu den arhythmischen, verführerischen Takt. Er war mir sofort ins Auge gefallen. Er war sehr groß und hockte mit einem großen Glas Bier in der Hand seltsam plump auf einem der niedrigen Hocker, die an Melkschemel erinnerten. Er hatte langes Haar und einen dichten Vollbart wie die meisten damals. Ich war in Begleitung eines Kollegen von Reuter, der uns miteinander bekannt machte.
Oscar war ein freier Journalist aus Westdeutschland. Ich war ein freischaffender dänischer Fotograf, der von einem schwedischen Journalisten angeheuert worden war, um Fotos für seine Artikel über die Demokratisierung in Spanien zu machen.
Und für ihn zu übersetzen. Der eben heimgekehrte Kommunistenchef Santiago Carillo sollte seine erste öffentliche politische Versammlung in Valladolid abhalten, und wir nahmen Oscar in unserem Mietauto mit, damit er eine Story für seine deutschen Zeitungen und Zeitschriften bekam. Er arbeitete hart, aber die kleinen linken Blätter, für die er schrieb, bezahlten nur kleine Honorare für sehr lange Artikel. So fing es an, durch einen Zufall, aber das ganze Leben besteht größtenteils aus einer Reihe von Zufällen, die erst später, im Rückblick, einen Sinn ergeben und ein Muster bilden. Wir versuchen ja, eine Ganzheit aus unserem Leben zu machen, so wie die Historiker versuchen, aus den zufälligen Fragmenten und Überbleibseln der großen Geschichte eine Ganzheit zu machen. Mit dem Alter kommt
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