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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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der Wunsch, Zusammenhänge zu sehen, der Wunsch nach dem Glauben, daß es ein Muster gibt. Daß nicht alles zufällig ist. Daß das Leben in Wirklichkeit wie ein großes Puzzle ist, bei dem alle Teile vollständig ineinanderpassen.
    Ich ließ Oscar herein, und wir umarmten uns. Das machten wir immer, wenn wir uns längere Zeit nicht gesehen hatten. Wir waren wirkliche Freunde. Ich mochte Oscar unglaublich gern, was auf Gegenseitigkeit beruhte, obwohl wir im Grunde sehr verschieden waren. Oscar und Gloria waren sicher viel linker eingestellt gewesen als unsereiner, der einfach dem Zeitgeist folgte, während sie aufrichtig an die neue Gesellschaft, an die Revolution glaubten. Heutzutage lacht man eher über den Revolutionseifer der Siebziger. Man nennt ihn romantisch und bagatellisiert ihn, als wollte man nicht erkennen oder sich erinnern, daß Revolution und Sozialismus für viele tatsächlich vor der Tür standen. Wie so viele andere liebäugelten Oscar und Gloria zumindest in ihren Äußerungen mit der Gewalt, ohne freilich zu weit zu gehen, und sie blickten zu den Helden der Zeit wie Mao oder Ho Chi Minh auf. Als dann die Schrecken der chinesischen Kulturrevolution bekannt wurden, war Gloria enttäuscht und ehrlich schockiert, während Oscar das eher von oben herab abtat. Das Fundamentalistische in ihrer politischen Überzeugung verschwand zugunsten des Individuellen und Naheliegenden. Aber sie waren ja so gläubig gewesen wie Jesuitenpriester. Wir redeten nicht viel darüber. Das war eigentlich das Merkwürdigste an unserem ganzen Jugendglauben. Es war, als hätten er und die Berliner Mauer nie existiert. Als wären Marx, Engels, Sowjetunion und DDR nur Fata Morganas in der Sonnenuntergangszeit des 20.
    Jahrhunderts gewesen.
    Und wir fingen an, Geld zu verdienen. Das ist ja gut dazu geeignet, Leute zu verändern. Wir waren nicht gleich, aber wir mochten die gleiche Musik, die gleichen Filme und die gleichen Bücher, und puritanisch waren wir alle nicht. Wir waren der Meinung, das Leben sei dazu da, gelebt zu werden. Teilweise hatte ich zu rücksichtslos gelebt, aber Amelia hatte mir geholfen, das hinter mir zu lassen, obwohl die Sehnsucht danach nie verschwinden würde.
    An die Revolution dachte keiner mehr von uns.
    Oscar war ein sehr großer Mann, etwas über zwei Meter, und er hielt sich schlank. Er hatte einen kleinen Bauch, der jedoch nicht vorherrschend war, da seine breiten Schultern alles überwogen und die Schwere des Leibesumfangs aufhoben. Sein breites Gesicht war jetzt glatt rasiert, seine braunen Augen waren ungewöhnlich klein. Er lachte schnell, und dann laut und ansteckend, und hatte einen sicheren, selbstbewußten Gang, der einen Mann mit Erfolg ankündigte. Immer trug er sehr elegante, lässige, maßgeschneiderte Anzüge mit Seidenhemden, aber ohne Schlips, beherrschte einen Raum und bezauberte die meisten Menschen. Er war der geborene Verkäufer, sein Talent war so groß, daß der Käufer sich geehrt fühlte, mit Oscar ein Geschäft machen zu dürfen. Er liebte das Verkaufen und war recht eigentlich ein Menschenmanipulator. Und wie bei allen großen Verführern war seine Moral vielleicht ein wenig zweifelhaft. Ich war froh, daß er mein Freund war und nicht mein Feind.
    Wir gingen ins Atelier hinauf, und ich zeigte ihm die Bilder.
    Er schnalzte beeindruckt mit der Zunge. Ich hatte zehn Farbabzüge und zehn Schwarzweißbilder gemacht. Das ergab einen schönen kleinen Bilderroman. Das Motorboot fährt in die Bucht, sie baden nackt, sie lieben sich vielleicht im Wasser, sie liegen zusammen am Strand, der Minister nuckelt an ihren Zehen. Das letzte Bild war das beste, aber auf dem Schnappschuß von dem Motorboot erkannte man die Gesichter der beiden am besten. Der Minister beugt sich über seine Mätresse. Sein Gesicht ist deutlich, und sein Blick ist auf ihre nackte Brust gerichtet. Sie fährt sich mit der Zunge über die Lippen. Ich war ihnen so nahe gekommen, daß ich das große Tele nicht gebraucht hatte, das körnige Bilder macht. Selbst Einzelheiten kamen sauber und scharf heraus, als wäre ich von ihnen auf einen Ausflug eingeladen worden. Ich hatte die zehn Abzüge so ausgesucht, daß die Klatschblätter oder Zeitungen der meisten Länder einen davon gebrauchen konnten, je nachdem, an welcher Stelle sich Blatt oder Nation auf der Borniertheitsskala befanden und was die Tradition gebot. Da er Politiker war, würden wahrscheinlich sogar seriöse Tageszeitungen ein Bild bringen, wenn sie von

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