Der Augenblick der Wahrheit
Geld vor allem auf dem explosiv anwachsenden Markt der Fernsehwerbung machten. Hier arbeiteten junge, kurzgeschorene Männer an starken Rechnern, manipulierten mit Ton und Bild und schufen die moderne Ausgabe der Sirenen: die verlockende, verlogene Botschaft, daß sich mit dem Kauf irgendeiner Ware das Glück einstelle.
Wir standen am Fenster in Oscars großem Büro mit den modernen, hellen skandinavischen Möbeln. Ich trank Cola.
Oscar und Gloria tranken Wasser. Die Luft war trocken und kühl, ein heftiger Gegensatz zu der flimmernden Smoghitze, die über der Stadt lag. Mein Arbeitszimmer lag dem Oscars gegenüber, dazwischen erstreckte sich die Bürolandschaft der Sekretärinnen. Bei mir standen ein alter Schreibtisch, ein neuer Computer, ein Telefon, ein abgenutztes Børge-Mogensen-Sofa, das ich auf dem Madrider Markt Rastroen gefunden hatte, und ein alter Fernseher spanischer Herkunft. Ich besaß weder einen Konferenztisch für zwölf Teilnehmer noch neue Möbel, ich hatte keine moderne spanische Kunst an der Wand, keinen Hightech-Drehstuhl am großen Schreibtisch und keine B&O-Multimediaanlage wie Oscar, der sie als direkten Beweis seines Erfolgs angeschafft hatte. Vor dem Ereignis, wie ich es nannte, hatte ich mich nur sporadisch in meinem Büro aufgehalten. Ich hatte es vorgezogen, zu Hause zu arbeiten. In den letzten Monaten hatte ich mich meist ganz ferngehalten.
Wir waren ganz schön wohlhabend, ja, man kann sagen, reich.
Ich hörte nur mit halbem Ohr zu, als Oscar vom höchst positiven Verlauf der Geschäfte berichtete. Sie hatten sich gefreut, mich zu sehen, und sogleich ihre Sekretärinnen angewiesen, Termine und die ständigen Telefonate abzusagen, freilich nicht die Verabredungen zum Mittag. Sie wußten, daß ich nicht so lange blieb. Sie packten mich wie gewöhnlich in Watte und umarmten mich und sagten mir freundliche Worte. Ihre gutgemeinte Fürsorge fuchste mich. Ich wünschte, sie würden zu ihrer sarkastischen, ironischen Art zurückkehren, wo wir mit schlagfertigen Antworten konkurrierten, aber ich liebte sie trotzdem. Irgendwie waren sie meine Familie. Die einzige, die ich noch hatte.
Ich betrachtete meine alten Freunde. Jeder von uns war fast ein halbes Jahrhundert alt, aber wir sahen nicht so aus. Wir waren sonnengebräunt, gepflegt und oberflächlich gesehen voll Arroganz und Selbstsicherheit. Wir hielten uns schlank und sportlich. Der Tod war uns näher als unsere Geburt, aber nur in Alpträumen sahen wir ihm in die Augen. Wir zählten darauf, den Mann mit der Sense zu besiegen, so wie wir bislang das meiste auf unserem Weg besiegt hatten. Oscar trug einen seiner hellen leichten Armani-Anzüge, Gloria ein luftig elegantes Sommerkleid, das den oberen Teil ihrer Brüste hervorhob und einen schwarzen Spitzen-BH andeutete, aus den feinen Sandalen lugten rotlackierte Nägel. Und ich hatte ein T-Shirt und Jeans an, für die ein Landarbeiter seinen Monatslohn opfern müßte.
Ich war leger gekleidet, aber ich wußte, daß von den handgenähten Stiefeln bis zu dem teuren Hemd Qualität ihren Preis hatte.
Wir hatten es weit gebracht, wir drei alten linken Rebellen, die sich vor so vielen Jahren in dieser Stadt kennengelernt hatten.
Wir waren arm und idealistisch gewesen. Wir hatten an die Zukunft geglaubt. Wir hatten mit der Unverwundbarkeit der Jugend alles in Schwarz und Weiß gesehen. Dort waren die anderen. Und hier waren wir. Wir gehörten zu einer Generation, die auf den Ruinen der alten Welt eine neue errichten wollte, und der erste Schritt zu einer sozialistischen, demokratischen Republik war getan, als der alte Caudillo in seinem Siechbett verfaulte. Wann hatten wir uns geändert? Nicht an einem bestimmten Tag. Nicht auf einmal, sondern allmählich war das Leben anders geworden, und wir waren nicht mehr länger zwanzig, sondern dreißig, und konnten nicht mehr ohne ein verlegenes, albernes Lachen mit Bob Dylan sagen, daß wir keinem über dreißig trauten. Die Behauptung, gegen das Establishment zu rebellieren, war absurd geworden, da wir nun selbst ein untrennbarer Teil der modernen gesellschaftlichen Elite geworden waren. Die Anwältin, die von Ungerechtigkeiten, Steuerhinterziehung, undurchsichtigen Gesetzen und dem EU-Dschungel willkürlich auszulegender Paragraphen lebte – und der Fotograf, der mit seinen bloßstellenden Fotos von den Fehltritten der Reichen und Prominenten für die Unterhaltung zum Morgenkaffee sorgte.
Aber waren wir glücklicher als in unserer Jugend?
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