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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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geglaubt, daß es zu etwas nutze wäre. Ich habe meinen Kinderglauben an Gott in den Schützengräben vor Madrid verloren. Aber das ging vielen so. Ich habe den Glauben wiedergefunden, als Amelia geboren wurde. Ein Mensch kann nicht in einem Vakuum leben. Ein Mensch, der nicht beten kann, ist ein unglücklicher Mensch. Als meine liebe Frau im Kindbett starb, war ich unglücklich, aber es war Schicksal, und ich habe Gott keine Schuld gegeben.«
    Er machte wieder eine seiner langen Pausen, ehe er fortfuhr:
    »Dieses Jahrhundert ist ein langes Verbrechen gewesen. Aber vor dem nächsten Jahrtausend haben wir Grund zu einem gewissen Optimismus. Wenn ich das Gebot, nicht eitel zu sein, einmal vergesse, kann ich doch einen gewissen Stolz für meine Generation empfinden. Wir wurden mit dem Nazismus fertig.
    Wir wurden mit dem Kommunismus fertig. Zwei Ideologien, die in Blut geboren wurden und in Blut lebten. Wir wurden mit der schlimmsten, tödlichen Armut hier in Europa fertig. Und mein eigenes Land? Vielleicht glaubst du mir nicht, aber in all den Jahren unter Franco habe ich daran geglaubt, daß die nicht immer korrekten Mittel, die wir anwendeten, nur das Ziel hatten, Spanien zu zivilisieren. Das Land, in dem ich vor mehr als siebzig Jahren geboren wurde, war ein mittelloses, rückständiges, isoliertes Land, voll Armut und Analphabetentum, Haß und Grausamkeit. Eine Million Menschen verloren im Bürgerkrieg ihr Leben. Vierzig Jahre Wunden und Narben haben das Land gespalten. Dieser furchtbare Haß. Spanien heute? Sieh dich um! Wir sind ein zivilisiertes, demokratisches Land. Das macht mich froh. Es macht mich froh, daß wieder ein König seine Hand über mein Vaterland hält. Es macht mich froh, daß die neuen Generationen das als selbstverständlich annehmen. Das war eigentlich der ganze Zweck. Daß es eine Selbstverständlichkeit ist, in Frieden zu leben.«
    Wieder eine Pause, und dann sprach er leise weiter: »Als uns Amelia und Maria Luisa genommen wurden, starb Gott zum zweiten Mal in meinem Leben. Diesmal glaube ich nicht, daß Er wiederauferstehen wird. Aber ich hoffe es, und da ich Ihn verfluche, muß ich doch annehmen, daß Er da ist. Warum ein Wesen verfluchen, das nicht existiert?«
    Er machte eine Pause und in der Stille der warmen Nacht hörte ich seine Worte wie das Echo meiner eigenen Gedanken bei der Beerdigung von Amelia und Maria Luisa. Don Alfonzo fuhr fort: »Ich gehe zur Messe, ich höre die bekannten Worte, ich schließe die Augen, ich falte die Hände, und nichts geschieht.
    Ich kann doch nicht beten. Meine Gebete sind so ausgetrocknet wie der Garten hier im August. Ich kann nicht beichten. Meine Sünden sind nicht so groß wie Seine Fahrlässigkeit, warum sollte ich sie also bekennen und Ihn um Vergebung bitten? Und deswegen kann ich auch nicht die Kommunion empfangen.
    Diesmal ist Er tot. Er ist so tot wie meine Tochter und meine Enkeltochter. Und doch, ich würde so gern wieder an die Auferstehung und das ewige Leben glauben, aber ich kann nicht.«
    In dem gelblichen Licht, das weich aus dem Wohnzimmer auf die Terrasse fiel, sah ich, daß seine Augen glänzten. Ich hatte ihn nie weinen sehen. Ich hatte eigentlich nie erlebt, daß er großen Gefühlen Ausdruck gab, jedenfalls hat er sie nie in Worte gekleidet, obwohl ich unzählige Male den Ausdruck des Glücks auf seinem Gesicht bemerkt habe, wenn er seine Enkelin beobachtete. Er war ein Produkt seiner Zeit und seines Lebens.
    Ein förmlicher Mensch, der nach den genau definierten Buchstaben der Pflicht lebte. Ich legte meine Hand auf seine und drückte sie. Sie war trocken und kühl trotz der abendlichen Hitze. Wir berührten uns sonst nie, und einen Moment lang dachte ich, er würde seine Hand zurückziehen, aber statt dessen legte er die andere Hand auf meine und umschloß sie. Sicher weinte er. Aber es geschah innerlich. Aus seiner Brust kam kein Ton, es flossen keine Tränen, und seine Stimme besaß die gewohnte Ruhe und das gewohnte Gleichgewicht, als er sagte:
    »Ich werde dir helfen, Pedro. Nicht weil ich glaube, daß es etwas nützt. Ich will nicht einmal Rache. Wozu? Glaube ich vielleicht an Gerechtigkeit? Kaum. Warum also? Aus zwei Gründen. Weil es den Schmerz lindern wird, den du vor mir und vor dir selber zu verbergen versuchst. Vielleicht kann die Rache eine Reinigung für dich sein. Oder wenigstens die Suche nach Rache. Zu zeigen, daß man etwas tut. Und zum zweiten, weil ich es dir schulde. Ein unvollständiger und später

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