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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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ich mit der Kamera fest in der Hand verbracht hatte, als wäre sie ein Körperteil. In gewisser Weise war es ein Läuterungsprozeß. Ich sah der Vergangenheit ins Auge und erledigte sie, so daß ich wieder von neuem beginnen konnte. Weil ich allein war und ohne die Familie, die in den letzten entscheidenden Jahren der Fixpunkt gewesen war. Die Sehnsucht war die ganze Zeit da, aber phasenweise vergaß ich Amelia und Maria Luisa in dem Hotelzimmer, wenn Bilder und Texte auftauchten und mich in Kindheit und frühe Jugend zurückschickten. Eigentlich kann man sich nicht erinnern, wie man war, man meint zwar, daß man es kann, aber die Erinnerung liegt nah am Vergessen, und ein Bild hilft weder die Gedanken noch die Gefühle von damals zu präzisieren. Sie sind nur kleine, vibrierende Echos aus einer vergangenen Zeit. Wie wenn ich das jetzt aufschreibe: Kann ich mir eigentlich meinen Gefühlszustand im Hotel Inglés wirklich zurückrufen, oder glaube ich nur, mich an die Stimmung zu erinnern, jene Mischung aus einer merkwürdigen Euphorie und tiefer Melancholie über das Vergehen der Zeit und das Näherkommen des Todes, Schritt für Schritt, Tag für Tag?
    Daran dachte ich, während ich Bild um Bild aus dem Koffer nahm. Fotos und Notizen waren chronologisch geordnet. Zuerst kamen die vergilbten Bilder eines streunenden Hundes aus der Kindheit, dann ein Baum im Wald, in dessen Krone ich meine Anfangsbuchstaben eingeritzt hatte, und meine Eltern, die vor ihrem ersten Volkswagen jung und tollkühn aussahen. Ich hatte vergessen, daß sie einmal jung gewesen waren. Das Bild von ihnen in meinem Kopf sah anders aus. Doch dort sahen sie glücklich aus, die Welt lag ihnen zu Füßen. Meine Mutter, die an einem frostklaren Wintertag die Wäsche aufhängt, ließ mich an Hosen denken, die, steif wie ein Brett, von selber stehen konnten, wenn sie von der Trockenleine geholt wurden. Alte Wörter aus einer vergangenen Zeit stiegen in mir auf, Waschkessel und Waschtag, Koksmann und Fahrradbote, und Bäcker-Bosse, der das Brot mit seinem Bollerwagen ausfährt, dann die Fischer, die zur Fastnacht ein großes Holzboot durch die Straßen trugen, während die wie Clowns geschminkten bekannten Gesichter versuchten, alle Mädchen zu küssen, welche wiederum eine Münze in die Sammelbüchse der Fischer werfen mußten, wenn es gelang, ihnen einen Kuß zu rauben.
    Das Geld ging an die zurückgebliebenen Witwen, deren Männer das Meer geholt hatte. Ich bin in der Mitte des Jahrhunderts geboren und habe meine Zeit eigentlich nur als modern erlebt, aber in der Erinnerung wird die Vergangenheit gespenstisch altmodisch. Das kleine Format der Boxkamera und die schlechte Tiefenschärfe wegen des miserablen Objektivs und meine großen, ernsten Buchstaben, die die Situation beschrieben: Ich am Strand, Januar 1958. Die zwölfjährige Marlene im Badeanzug und vier Jahre später unbekleidet am selben Strand, es war ein Sommertag, an dem die Sonne das Land zu backen schien. Ein Jugendfreund, dessen Namen ich vergessen hatte.
    Das erste Foto von Oscar und Gloria, aufgenommen in Pamplona, während der San Fermin Feria, sie haben sich um die Taille gefaßt. Ihre weißen Sachen sind mit Wein bekleckert, und Oscar hebt einen Weinschlauch über Glorias Kopf, als wollte er sie taufen. Das Bild ist schwarzweiß, aber ich weiß noch, daß sie rote Halstücher trugen. Glorias schwarzes volles Haar steht wild um ihren Kopf. Und Oscar hat schulterlange Locken, sein Bart ist struppig und lang wie der eines Wikingers. Es ist ein wunderbares Bild, voll Jugend und Leben. Und voll Zuversicht, daß uns das Leben zu Füßen liegt und die Zukunft gut wird. Ein Bild, in dem die Träume realisierbar sind, voll Fortschrittsglauben und Lebensfreude. Es symbolisiert unsere Überzeugung, daß wir die erste Generation sind, die die Welt ins Bessere kehren will und kann. Daß die alte Welt zusammenstürzen und von Liebe und Gleichheit ersetzt werden wird. Wir waren in Pamplona zum ersten Mal zusammen und liefen vormittags vor den Stieren her und feierten die Nächte mit Navaresen und Basken und Tausenden von Touristen, die mit Hemingways Fiesta in der Tasche johlend und trinkend an dem siebentägigen Fest in Navarras Hauptstadt teilnahmen.
     
    Und das erste Bild von Amelia in weißer Bluse und blauem Rock mit zusammengekniffenen Augen vor dem Springbrunnen auf der Plaza Cibeles in Madrid. Beim Anblick ihrer hübschen, kleinen Füße in Goldsandalen schossen mir die Tränen in die Augen.

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