Der Augenblick der Wahrheit
Ihr verzerrtes Gesicht bei Maria Luisas Geburt, deren schwarzgelockter Kopf eben aus dem Schoß guckt. Und das Bild von beiden zusammen, nackt im Sonnenschein in einer kleinen Bucht bei San Sebastian. Und das letzte Bild, das ich von ihnen machte. Sie sitzen auf einer Bank und füttern Tauben.
Ich hasse diese fliegenden Ratten, aber Maria Luisa liebte sie, und ich habe in dem Moment auf den Auslöser gedrückt, als die Vögel wie ein Heiligenschein um ihre Köpfe stehen, während der Blick auf den lachenden Mund des Kindes und die glücklichen Augen der Frau gelenkt wird. Dieses Bild habe ich ein paar Stunden angesehen, und ich spürte die Trauer als körperlichen Schmerz.
So waren die Fotos. Schachtel auf Schachtel. Umschlag auf Umschlag. Bilder, die nur mir etwas bedeuteten, und Bilder, die mich reich und in bestimmten Kreisen berühmt gemacht haben.
Noch ein anderes Foto hielt ich lange in der Hand. Es war 1971
aufgenommen worden. Es zeigte eine Gruppe Fotografen vor einem mondänen Restaurant in Kensington. Ich bin mit auf dem Bild, ich hatte meinen Apparat einem Kollegen gegeben. Wir sind jung und haben uns fast wie eine Fußballmannschaft aufgestellt. Regen liegt in der Luft. Ich rieche noch die feuchte Kleidung und die Virginiazigaretten und höre noch ihre munteren Stimmen. Wir lachen, die meisten haben eine Kippe im Mund oder in der Hand, und auf dem Kopf sehen wir alle wie Prinz Eisenherz aus. Wir haben Jeans und Lederjacken an.
Die Kameras mit Tele hängen uns um den Hals wie der atavistische religiöse Schmuck eines exotischen Stammes. Wir warten, daß John Lennon und Yoko Ono nach ihrem Mittagessen aus dem Lokal kommen, dann würde sich unsere lärmende, schnell schwadronierende Kameradschaft in Luft auflösen und wir würden vorwärtsstürmen und unsere Linsen in der Hoffnung auf sie richten, genau das Foto zu schießen, das das Essen am Abend sichern würde. Wir harrten in Kälte und Regen aus. In Sonne und Wind. Wir warteten auf unsere Beute wie ein Rudel Wölfe. Wir jagten im Rudel, aber den großen Brocken kriegte am Ende nur der Stärkste. Wir wußten, wo die Prominenten speisten, Sport trieben, mit ihren Hunden Gassi gingen, ihre Geliebten besuchten. Wir kannten die Gewohnheiten der Königshäuser besser als die unserer eigenen Familie. Wir waren Raubtiere, die das Beutetier in bekannten Revieren verfolgten. Sie versuchten, uns zu entkommen, wir spürten sie auf und erlegten sie, wenn wir Glück hatten. Sie suchten uns auf, wenn sie uns bei gegenseitigen Machtkämpfen brauchten oder weil sie das Vergessen mehr fürchteten als das Objektiv. Ich gehörte der festen Gruppe an, verließ sie aber wie andere Kollegen meines Alters, wenn gute Bilder und gutes Geld an anderen Orten lockten. In Moskau, Beirut, Teheran, Ost-Berlin, New York, Madrid. Reportagefotos oder Sportfotos.
Die Welt war mein Spielplatz und mein Arbeitsplatz. Meine Sprache war der internationale Ausdruck des Bildes, der von allen in allen Ländern gelesen werden kann. Das zwanzigste Jahrhundert ist das Jahrhundert des Bildes, Augenblicke, die den Bruchteil einer Sekunde festhielten, haben Geschichte geschrieben und waren oft zwei Tage nach ihrer Veröffentlichung in der Zeitung vergessen. Aber nicht Jacqueline Kennedy. My lucky break. Mein Ticket für das gut gefüllte Konto.
Ich war in die Bilder versunken und wurde sentimental und betrunken und verzweifelt, weil ich sah, wie die Jahre verschwanden, von der Zeit verweht wie Kalenderblätter in einem alten amerikanischen Film. Kindheit, Jugend, Mannesalter. Festgehalten und doch unweigerlich vorbei auf vergänglichem Fotopapier oder spröden, zerknitterten Negativen. Als ich noch Amelia und Maria Luisa hatte, verschwendete ich nie einen Gedanken an mein Alter. Hatte keine Angst vor dem Altwerden. Aber mit den Fotos in der Hand konnte ich den körperlichen Verfall fast spüren, die mühevollen Schläge meines Herzens, ich fing an, sie zu zählen und auszurechnen, wie oft es in den knapp fünfzig Jahren geschlagen hatte. Beim Gedanken an die Heidenarbeit, die mein Herz vollbracht hatte, wurde mir schwindlig. Die Grießbildung der Nieren, die schwarzen Beläge der Lungen, die spröde Zerbrechlichkeit der Knochen und das unerbittliche Ticken der Zeit. Ich bekam Angst zu sterben und wurde wütend auf die Zeit und auf Gott, der es zuließ, daß sie verstrich, ohne daß man es merkte. Ohne daß man verstand, daß jede vergangene Sekunde ein für allemal vorbei ist.
Zum Schluß nahm
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