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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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teilte den Tee mit uns. Das war ein Zeichen, daß wir nun über alltägliche Dinge reden konnten. Ich war lange nicht mehr da gewesen und fragte höflich, wie es der Firma und der Familie gehe. Das Studio floriere, sagten sie, und Suzuki sei wieder Großvater einer gesunden und munteren Enkelin geworden.
    Ich zog mir meine Kleider und Schuhe an, und sie begleiteten mich zur Tür, wo wir uns noch einmal voreinander verneigten.
    Es wäre vielleicht zuviel gesagt, daß ich mich wie ein neuer Mensch fühlte, aber ich fühlte mich gereinigt. Die Schmerzen meiner Verletzungen hatten nachgelassen, und die Unruhe in Körper und Gemüt hatte abgenommen. Ich wußte, daß die Wirkung in meiner Lage nicht lange vorhalten würde, aber der Frieden, den Suzuki geschaffen hatte, würde lange genug dauern, daß ich mir ein Herz faßte, um mir endlich die Fotos anzusehen, die wiederzusehen ich eigentlich wenig Lust verspürte.
     
    12
    Ich verbrachte ein paar Tage in meinem Hotelzimmer mit abgeschaltetem Handy. Davon einen Tag, an dem ich ausschließlich an mich dachte. Einen egoistischen Tag, an dem ich mich in meine Kindheit zurückversetzte, die mit meinen liebenswürdigen Eltern im Grunde unproblematisch gewesen war, und in die sehr problematische Jugend. Und doch mußte ich innehalten und mich fragen, ob sich meine eigene Rastlosigkeit vielleicht aus der Gesetztheit meiner Eltern resultierte. Sie wurden geboren, verliebten sich und starben in einem kleinen Dorf auf Fünen, und ich glaube, sie waren mit ihrem stillen bürgerlichen Leben glücklich und zufrieden gewesen, als sie diese Welt verließen. Selbstverständlich kann ich mich an sie erinnern, eine Erinnerung allerdings, die zerfließt und verschwimmt. Da ist ein etwas ferner Vater, der zur Arbeit geht. Und eine stets freundliche Mutter, die zu Hause ist und immer da, wenn man sie braucht. Es war, als wären sie immer alt gewesen und dennoch ohne Alter, und in einer kurzen Periode, bevor sie rasch hintereinander starben, schienen sie vor meinen Augen plötzlich zu altern und innerhalb weniger Wochen dahinzuwelken, so daß ich sie nicht mehr mit den Augen des Kindes sah.
    Es wurden Tage, an denen ich in mir selber schwelgte und zu den wesentlichen Punkten meines Lebens zurückzufinden versuchte. Zu den tiefen Schichten des Unbewußten, wo ich selber Ankläger, Verteidiger und Richter war. Deshalb konnte ich auch die Bremse ziehen, wenn es anfing, zu weh zu tun, aber es waren Stunden, in denen ich zum ersten Mal in meinem fünfzig Jahre langen Leben auf mich selbst schaute und herauszufinden versuchte, wer ich war und warum ich so war.
    Ich fand nicht so viele Antworten, wie ich vielleicht erhofft hatte, aber die Gedanken ließen mich mein Leben besser verstehen, so daß ich nicht mehr ganz so beschädigt aus dem Prozeß herauskam. Ich drang bis in den Kern der Trauer vor, und obwohl ich die Verzweiflung nicht los wurde, konnte ich sie einpacken und isolieren und damit besser unter Kontrolle bekommen.
    Ich war allein. Ich konnte lachen und weinen, ohne daß es einer sah. Ein gutes, diskretes Hotel ist der anonymste Ort der Welt. Ich konnte im Zimmer auf und ab spazieren. Ich konnte im Schneidersitz auf dem Boden oder auf dem Bett sitzen. Ich konnte essen und trinken, wann ich wollte. Ich konnte auf das Bad verzichten. Ich brauchte mich nicht zu rasieren. In der Madrider Hitze konnte ich nackt wie ein Baby dahocken oder schlicht in der Unterhose. Das einzige, was ich vielleicht nicht machen durfte, war schreien. Das Hotel hatte keine Klimaanlage, das Fenster stand also offen, und wenn ich meinen Schmerz hinausgebrüllt hätte, wäre die Polizei gekommen. Ich konnte die Geräusche des Alltags von der Straße hören, aber die unten auf der Calle Echégaray konnten mich nicht hören. Denn meine Gespräche mit mir selbst waren murmelnd und gedämpft, ein Dialog zwischen zwei stummen Abteilungen meines Gemüts, die das Wortlose in Worte zu fassen versuchten.
    Der Zimmerservice brachte mir hin und wieder eine Mahlzeit, die ich im allgemeinen nicht anrührte, wohingegen ich ziemlich schnell anfing, die Flaschen in der Minibar zu leeren. Ich wurde eigentlich nicht betrunken, sondern weich und sentimental, wenn ich in meinem Koffer und meiner Vergangenheit wühlte.
    Es erinnerte mich an das Surfen im Internet. Ich hatte keine Ahnung, wonach ich fahndete, sondern suchte auf gut Glück in zusammenhanglosen Notizen, alten Kladden, halben Tagebüchern und den Fotos aus vierzig Jahren, die

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