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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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ausgewählt, sortiert und katalogisiert. Warum fragst du?«
    »Weil ich glaube, daß in den Fotos die Antwort liegt.«
    »Peter, ich glaube, es gibt keine Antwort. Warum quälst du dich? Laß es doch ruhen. Komm zu uns zurück. Du hast noch viele Jahre vor dir. Wir halten es nicht aus, dich so unglücklich zu sehen.«
    »Du bist ein guter Freund, Oscar.«
    »Dann hör zum Teufel auf das, was ich dir sage!«
    »In Ordnung. Nach dem Sommer.«
    Er sah aus, als wollte er noch etwas sagen, aber er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Dann sagte ich, ohne eigentlich zu wissen, woher mir die Idee kam – vielleicht hatte der Alkohol die Assoziationen in Gang gesetzt: »Du hast das Mädchen auf dem Foto gekannt, nicht?«
    Er sah mich verblüfft an, aber sein Blick flackerte.
    »Was für ein Mädchen?«
    »Hör schon auf, Oscar.«
    »Ich dachte, ich hätte sie schon mal gesehen, aber ich kann sie nicht einordnen. Es ist dreißig Jahre her.«
     
    »Warum hast du nicht gesagt, daß du sie kennst?«
    »Ich war nicht sicher.«
    »Aber du hast sie gekannt?«
    »Ich glaube schon. Auf jeden Fall erinnert sie mich an irgend jemanden. Aber verflucht … die Weiber haben damals eben alle gleich ausgesehen. Kein Make-up und Haare unter den Achseln.
    Großes Maul und höllisch rabiat. So waren die Zeiten, Alter!«
    »Ist doch trotzdem komisch, daß wir dieselbe Frau kannten, bevor wir uns kennengelernt haben. Findest du nicht?«
    »Nee. Vielleicht haben wir geglaubt, wir Revolutionäre seien in der Überzahl, aber wir waren ja eine Minderheit, wir sind uns ja dauernd über den Weg gelaufen, bei Demos, Veranstaltungen und was weiß ich nicht alles. Wir haben übereinander getratscht, wie eben alle Gruppen übereinander tratschen. Es war ja auch kein Zufall, daß wir beide uns getroffen haben. Es wäre seltsamer gewesen, wenn wir uns nicht über den Weg gelaufen wären. Beide Presseleute. Beide Kunden derselben Bars. Beide Mitglieder desselben internationalen Pressevereins in Madrid.
    Warum ist das so interessant?«
    »Hast du den Mann auf dem Bild gekannt?« fragte ich.
    Er schüttelte den Kopf und leerte sein Glas.
    »Ich hab ihn vorher nie gesehen«, sagte er, und ich glaubte ihm. An dem, was er sagte, war etwas dran. Im Laufe der Zeit habe ich viele getroffen, die ich aus den Siebzigern kannte und die zu dem rebellischen Milieu gehörten, das über die Grenzen hinweg existierte. Revolutionäre Studenten der Berliner Freien Universität, amerikanische Deserteure aus Vietnam, Autoren und angehende Künstler, die ihr Glück im billigen Madrid versuchen wollten, das der Szene damals gerade alles zu bieten schien, so wie nach dem Fall der Mauer Prag angesagt war.
    Große Umwälzungen ziehen immer junge abenteuerlustige Menschen an.
     
    »Es ist einfach ein kurioser Zufall, Peter«, sagte er, schaute auf seine Uhr und fragte, ob ich mit nach Hause fahren wolle, dann könnten wir zusammen mit Gloria essen, aber ich sagte nein und lehnte auch die Mitfahrgelegenheit in die Stadt ab. Er ging, nach rechts und links grüßend, und ich blickte ihm nach und bestellte noch einen Gin Tonic, bevor ich mich von dem Taxi ins Hotel Inglés bringen ließ. Es war ein reichlich masochistischer Zug, ein Hotel wenige Schritte von der Brandstätte zu wählen, aber es war ein kleines Familienhotel mit großen Zimmern, wo ich oft gewohnt hatte, bevor ich meine eigene Wohnung bekam. Es war diskret, und es war mein Viertel, in dem ich mich zu Hause fühlte und in dem ich irgendwie wieder von vorne anfangen zu müssen meinte, wenn ich vermeiden wollte, daß meine verzweifelte Sehnsucht in eine wirklich todbringende Depression überging, die mich in den Selbstmord führen würde.
    Das Zimmer war ein Doppelzimmer, das ich für einen Einzelzimmerpreis bekam. Ich hatte dem Hotel oft Gäste vermittelt, wenn Freunde oder Geschäftsbekannte ein paar schöne Tage in einem gemütlichen Hotel zu erschwinglichen Preisen verbringen wollten. Carlos an der Rezeption kannte mich und wollte weder Paß noch Ausweis sehen. Neben dem Doppelbett gab es einen Tisch mit einem hochlehnigen Stuhl, Telefon, Minibar und Fernseher. Die Wände waren mit einer inzwischen verblichenen Tapete beklebt und mit Reproduktionen von Goyas und Picassos Radierungen vom blutigen Sand der Arena dekoriert. Wir waren ja immerhin in Madrids altem Stierkämpferviertel. Das Badezimmer war sauber und altmodisch groß mit einer rosa Wanne. Ich stellte meinen Koffer gleich neben die Tür und warf meine Tasche

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