Der Augenblick der Wahrheit
aufs Bett.
Keiner wußte, wo ich war. Irgendwie fühlte ich, daß der Koffer unantastbar war, solange er in einem fast öffentlichen Raum stand.
Ich ging die Straße hinunter bis zu Suzukis Studio. Ich wußte, daß ich den Blick in meine Fotos hinausschob, aber ich brauchte auch die beruhigenden, tröstenden Hände des alten Mannes. Die Luft war warm, und mitten auf der Straße trieben junge Menschen Arm in Arm dahin, wie sie es auf dem Weg zu copas und tapas immer getan haben, in diesem Madrid, das nie zu schlafen schien.
Ich stellte meine Schuhe ab und verneigte mich vor Suzukis jüngstem Sohn.
»Mein Vater hat dich erwartet, Lime-san«, sagte er in seinem fehlerfreien Spanisch.
Ich zog mich aus und bewunderte meine farbenfrohe Brust, auf der die Blutergüsse nun eher gelb und braun geworden waren, duschte, wickelte ein Handtuch um meine Hüfte und legte mich auf die Pritsche in dem kleinen, innersten Raum des Hauses. Es war wie ein kleines Stückchen Japan mitten in Spaniens Hauptstadt. Dünne, mit kalligraphischen Zeichen bemalte shois stellten die Wände dar. Der Boden war mit weichen Matten bedeckt, und es duftete nach Jasmin. Ich konnte die Trainingsgeräusche aus dem großen Saal hören, das wischende Geräusch nackter Füße bei Angriff, Verteidigung, Finte, Ausfall und die japanischen Rufe mit spanischem Akzent, wenn die Schläge angedeutet wurden. Meine geprellte Rippe und die genähte Wunde taten weh, und meine Kopfschmerzen wanderten langsam in den Nacken.
Suzuki betrat den Raum, bekleidet mit seinem weißen Kimono. Er verneigte sich, und ich erhob mich und verneigte mich ebenfalls respektvoll. Er war ein kleiner, drahtiger Japaner um die Siebzig, aber ich fand, er hatte sich in den letzten fünfundzwanzig Jahren unserer Bekanntschaft nicht verändert.
Er war ganz kurz geschoren, und sein Haar war noch immer rabenschwarz.
»Willkommen in meinem Haus, Lime-san«, sagte er in seinem langsamen Spanisch mit dem unverkennbar asiatischen Akzent.
»Leg dich hin und finde Ruhe in deiner Seele. Ich habe von deinem Unglück gehört und sehe den Schmerz in deinen Augen.«
Ich legte mich auf den Bauch und spürte, wie seine kraftvollen und doch zarten Finger ihre magische Reise über meinen Körper antraten. Er knetete, drückte, massierte und strich von den Füßen bis hoch in den Nacken. Es war, als ob er die physischen und psychischen Leiden vor sich herschob, wie ein Schneepflug den Schnee schiebt, und langsam zog sich der Schmerz zusammen und sammelte sich im Nacken zu einem Klumpen, um dann, als er fest und sanft meinen Nacken massierte, wie bei einem Taschenspielertrick magisch zu verschwinden. Anfangs fiel es mir noch schwer zu entspannen, aber seine Zauberkunst wirkte wie gewohnt.
»Du hast deinen Körper wieder mit Giften gefüttert, Lime-san«, sagte er. »Du hast deine Seele mit bösen Gedanken gefüllt.
Du mußt wieder in dein wa zurückfinden. Sonst gehst du zugrunde. Du bist voll böser Geister und negativer Gedanken.
Du mußt aufhören, deinen Körper und deine Seele zu mißhandeln. Du mußt in den innersten Kern deiner Seele zurückfinden, auch wenn du deinen festen Halt verloren hast.
Du mußt einen neuen finden. Das bist du deiner Familie schuldig, Lime-san.«
Vielleicht war es Greisengerede. Ich weiß es nicht. Aber es stärkte und entspannte und linderte physisch und psychisch. Sein Spanisch mit dem japanischen Akzent hatte immer besonders beruhigend auf mich gewirkt. Er hatte eine tiefe, rauhe Stimme, und ich glaube, er benutzte viele Kniffe, die auch Hypnotiseure benutzen. Jedenfalls gelang es ihm immer, wenn ich angespannt und nervös war, mich in ein leeres, aber angenehmes Dunkel schauen zu lassen, in dem es weder Trauer noch Freude gab, sondern nur das Nichts. Das war besser als Pillen. Und jahrelang war es auch besser als Alkohol gewesen.
So gesehen ist es eigentlich egal, was einem hilft, Hauptsache, es hilft, dachte ich, als ich spürte, wie meine Schmerzen aus dem Kopf zu wachsen und in dem gedämpften Licht zu verschwinden schienen, das die kalligraphischen Zeichen fast lebendig erscheinen ließ, und ich schlummerte wie ein kleines Kind.
Er ließ mich eine Stunde schlafen und weckte mich dann mit starkem, süßem Tee. Ich hatte mir einen Kimono geliehen, wir knieten uns einander gegenüber und tranken unseren Tee in aller Ruhe. Sein jüngster Sohn trat ein, grüßte respektvoll seinen Vater und mich mit einer Verneigung, setzte sich neben uns auf den Boden und
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