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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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keine Lust, Erdbeeren zu pflücken. Das hatte sie eigentlich nie. Sie ging davon aus, daß die Männer für sie sorgten. Sie trat für alle feministischen Ideen ein, aber wie bei so vielen anderen Dingen war es nur ein Lippenbekenntnis.
    Sie wollte am liebsten bedient werden und bevorzugt von Männern.
    Als ich aus ihrem Zimmer ganz oben im Hauptgebäude kam und die Treppe hinunterging, sah ich einen Schatten, der sich gleichsam zurückzog, um dann wieder vorzutreten und die Treppe zur Küche hinabzuhuschen. In dieser WG, die in dem alten großen Hauptgebäude eines ehemaligen Gehöfts wohnte, gingen die Leute ein und aus, so daß man häufig auf jemand stieß, den man nicht kannte. Anfangs meinten viele, unsere WG
    sei eine Kommune im wörtlichen Sinn, und wenn es ein leeres Bett gab, könne man einfach hineinschlüpfen. Ich ging in die Küche, um Kaffee zu trinken und mit den anderen Pflückern zu frühstücken. Aber ich war zu spät aufgestanden. Sie waren schon weg. Eine Frau stand mit Ernst am Waschbecken. Sie hielt einen Becher Tee in der Hand und sprach auf deutsch eifrig, aber leise mit Ernst, der angespannt zuhörte. Ich sagte guten Morgen, die Frau drehte das Gesicht weg, und Ernst bat mich in seltsam schroffem Ton zu verschwinden. Ich antwortete nicht, sondern nahm einen Becher Kaffee und machte mir eine Scheibe Weißbrot mit Käse. Es war genauso meine Küche wie ihre. Die Frau wandte mir den Rücken zu. Sie hatte einen etwas schmächtigen, hübschen Frauenrücken unter einem lockeren Pulli, der über die verwaschenen Jeans hing. Ihr kurzes Haar war gerade geschnitten, und sie trug kein Make-up, aber ich erinnere mich an ein bleiches, straffes Gesicht und brennende, intensive Augen, als sie mich fixierte. Die beiden blieben in der Küche stehen, und ich setzte mich im Morgengrauen in den Hof, aß mein Brot und trank meinen Kaffee und rauchte eine Zigarette.
    Am Abend fragte ich Ernst, wer die Frau mit den intensiven Augen gewesen war. Er stand in dem alten Garten hinter dem Wohnhaus und guckte verliebt Lola an, die mit ihrem hellen, offenen Haar und dem nackten Körper unter dem dünnen, gestreiften Baumwollkleid in der Abendsonne umherlief. Sie hatte ein kleines Mädchen von drei Jahren an der Hand, ein Kind aus der Wohngemeinschaft. Ich wußte, daß sie mit Ernst geschlafen hatte. Es machte mir nichts aus. Ich mochte die etwas träge Lola und ihre sinnliche, langsame Liebe, aber verliebt war ich nicht in sie. Jedenfalls nicht so, daß es weh tat. Nicht so, daß ich eifersüchtig war. Wörter wie Eifersucht und Untreue waren kein Teil unseres sprachlichen Gepäcks. Kein Mensch war Eigentümer der Lust eines anderen oder von dessen Recht, diese Lust mit anderen Menschen zu befriedigen. Ich kannte ihre Neigungen von Anfang an. Sie hatte ja das Bett eines anderen verlassen, um in meins zu kommen. Aber Ernst konnte sich mit dem neuen revolutionären Freisinn nicht anfreunden.
    Er hatte mich angesehen, obwohl es ihm schwerfiel, seinen Blick von Lola und ihren sinnlichen Bewegungen im Licht des schönen dänischen Sommerabends abzuwenden. Man konnte die Unsicherheit von seinem jungen Gesicht ablesen, und er errötete ein wenig. Halb im Scherz und halb im Ernst sagte ich, die mystische Frau aus der Küche sei ja nicht so schön wie Lola. Er drehte sich wütend zu mir um und zischte, ich solle mich um mich selber kümmern und täte gut daran zu vergessen, sie je gesehen zu haben. Wütend stapfte er aus dem Garten. Ich sah ihn nie wieder. Er verschwand mit der Frau aus der Küche. Ob sie später im Sommer wieder zurückkehrten, weiß ich nicht.
    Eine Woche später packte ich meinen Rucksack und fuhr per Anhalter nach Kopenhagen, um, wie man sagt, mein Glück zu machen.
    Erst ein paar Jahre später bekam die Frau auch einen Namen, als ich ihr Gesicht auf den Fahndungsplakaten in der Bundesrepublik sah. Ihre und Ulrike Meinhofs intensive Augen starrten von dem Plakat, auf dem sie wegen Mord, Entführung, Raub und anderen terroristischen Taten gesucht wurden.
    Seitdem habe ich nicht mehr daran gedacht. Ich weiß noch: Als ich ihr Bild sah, dachte ich, daß mein Verdacht richtig gewesen war. Daß die Wohngemeinschaft bei Bogense terroristische Samen gesät hatte, aber die wurden in jenen Jahren an vielen Orten gesät. Die meisten haben ja nicht über die Stränge geschlagen. Man nehme nur Oscar und mich selbst. Oder einige der anderen Bewohner aus jener Zeit. Einer ist heute ein erfolgreicher Werbemann. Ein anderer

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