Der Augenblick der Wahrheit
ich mir das Foto vor, das ganz zuoberst im Koffer lag. Ich weiß nicht genau, was mich dazu veranlaßte, aber vermutlich das Gefühl, es berge ein Geheimnis. Aber noch wichtiger war, daß ich den Eindruck nicht los wurde, es gebe da eine enge Verbindung zu der Tragödie. Ich betrachtete das Bild mit der jungen Frau mit dem Marianne-Faithfull-Haar und dem Mann hinter ihr.
Clara Hoffmann hatte mir das Foto in der Cervezería Alemana vorgelegt, und seitdem war mein Leben nicht mehr dasselbe.
Jetzt legte ich es auf den Boden im Hotel Inglés, schaute es an und erinnerte mich. Es gab noch ein anderes Foto aus der Zeit.
Ein Farbfoto, in einem Wohnzimmer aufgenommen. Das Mädchen, Lola Nielsen, war darauf mit einem anderen Mädchen zu sehen, dessen Name mir nicht mehr einfiel. Es gibt da auch noch drei Männer. Sie sitzen um einen niedrigen Tisch. Auf dem Tisch stehen zwei große braune Keramikaschenbecher, und neben einer altmodischen Pfeife liegt nachlässig ein Chillum.
An der Wand hängt das bekannteste Poster dieser Zeit: Ein stark geschönter Che Guevara mit Vollbart und sanften Augen unter dem Barett betrachtet die böse kapitalistische Welt. Ein anderes Plakat verurteilt den imperialistischen Krieg in Vietnam, der eine ganze Generation zusammenschweißte. Er ist vergessen, wie so vieles andere, ein ferner historischer Krieg in einem weit entfernten Land. Die Stühle und das Sofa scheinen geradewegs aus der Rumpelkammer zu stammen. Lola spielt auf ihrer Gitarre, und die Männer sehen sie an. Ihr helles Haar fällt ihr übers Gesicht und verdeckt es halb. Der eine der Männer ist Ernst Strauß, der in jenem Sommer mit zwei anderen Deutschen aus Berlin angereist war. Auf dem Bild sehen sie sich ähnlich, junge Männer mit Bart und langen Haaren.
Ich konnte mich erinnern, daß sie im Frühsommer einige Monate in unserer Wohngemeinschaft verbracht hatten. Ich sah sie vor mir: Sie waren stürmisch und engagiert und sprachen von der kommenden Revolution. In Diskussionen behaupteten sie unbeirrbar, daß eine friedliche Umwälzung der Gesellschaft nicht länger möglich sei.
Sie sagten hölzerne Sätze wie: »Durch kleine disziplinierte Gruppen, in selbständigen Zellen organisiert, wird die bürgerliche Gesellschaft dahingebracht, ihr wahres faschistisches Antlitz zu zeigen. Durch Gewalt und Terror soll der bürgerliche Staat aus seiner repressiven Toleranz gezwungen werden. Die Palästinenser zeigen, daß die Weltgesellschaft erst hört, wenn Gewalt hinter den Worten steht, wenn spektakuläre Flugzeugentführungen oder Geiselnahmen die gerechte Sache in die Schlagzeilen der Weltpresse bringen. Die bürgerliche Gesellschaft muß durch die bewaffneten Aktionen des Volkes in ihrem Herzen getroffen werden.«
Damals wurde mir bewußt, daß Ernst kein West-, sondern Ostdeutscher war. Jedenfalls war er in Halle geboren.
»Bist du über die Mauer gehüpft?« habe ich ihn gefragt, aber seine Antwort war ausweichend.
Mehrere der dänischen Kommunarden unterstützten die jungen Deutschen, während sich andere dem Gebrauch von Gewalt widersetzten. In der Szene gab es hitzige Diskussionen. Aber Lola und ich mischten uns gewöhnlich nicht ein. Lola dachte nur an ihre Karriere als Songschreiberin, und ich dachte meist an meine Bilder, daran, der Robert Capra meiner Zeit zu werden, Lola und anderen Mädels an die Wäsche zu gehen und Shit zu rauchen. Ich beherrschte die nötigen Phrasen, aber im Innern glaubte ich eigentlich nicht an ihre vielen marxistischen und revolutionären Worte. Den Deutschen und den Dänen ging es einfach zu gut.
Ich schaute auf die Fotos, und die Erinnerung wurde stärker.
Ich erinnerte mich, wie wir alle auf den vielen Erdbeerfeldern, die die Stadt umgaben, Geld mit Pflücken verdient hatten. Wir standen gegen vier Uhr morgens auf und radelten zu einer Sammelstelle, wo uns ein Traktor mit angehängtem Plattformwagen erwartete, um uns zur Pflückstelle des Tages zu bringen. Es gab gutes Geld, wenn man schnell war, und keiner fragte nach Steuerkarte oder Ausweis. Und plötzlich fühlte ich wieder die nassen, schweren Pflanzen und den Geschmack der großen süßen Beeren und die kühle Morgenluft und den Duft nach Salz und Dunst vom nahen Meer und sah die gebeugten Rücken und die hochgereckten Hinterteile im grauen Morgen und spürte die beißende Müdigkeit in den Hüften.
Und plötzlich erinnerte ich mich an noch mehr.
Ich war eines frühen Morgens aus Lolas Zimmer gekommen.
Sie hatte an dem Tag
Weitere Kostenlose Bücher