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Der Augenblick der Wahrheit

Titel: Der Augenblick der Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Davidsen
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Staatssekretär in einem Ministerium und bekannt für seine rücksichtslose Personalpolitik unter der bürgerlichen Regierung in den achtziger Jahren.
    Ich nahm mir noch einmal das Gruppenbild aus der WG vor und schaute mir besonders einen der drei jungen Männer an.
    Plötzlich wußte ich wieder seinen Namen: Karsten Svogerslev.
    Er sitzt mit dichtem krausen Haar und Bart ganz links und sieht Lola an. Er ist der einzige, der seine Überzeugungen von damals bewahrt hat. Ich habe die dänische Politik nicht sonderlich verfolgt, aber er war im Folketing, fiel mir ein. Er gehörte einer linken Gruppierung an, die den äußersten linken Flügel vereinte: alte Kommunisten, Anarchisten, Trotzkisten und Maoisten, alle Parteien aus den Siebzigern, die in ihrem Namen Begriffe wie Arbeiter oder kommunistisch führten. Sonst hatten die meisten ihre Vergangenheit abgelegt. Als die Berliner Mauer fiel, gingen ihre Überzeugungen in die Brüche.
    Sowohl die Wohngemeinschaft als auch Dänemark hatte ich längst hinter mir gelassen, und Lola war eine Frau unter anderen in meiner Vergangenheit, eine nette Erinnerung, aber nicht mehr. Erst hier im Hotelzimmer fast dreißig Jahre später kam mir alles wieder in den Sinn, weil ich in den Ecken und Verstecken des Gehirns, wo die Erinnerungen in unordentlichen Haufen lagern, die Überbleibsel der Vergangenheit finden wollte.
    In der Nacht vor meiner Abreise war ich mit Lola zusammen gewesen. Sie hatte ein kleines Zimmer mit schrägen Wänden.
    Die einzigen Möbelstücke waren das breite Bett, das sie im alten Schlafzimmer des Bauernhofs gefunden und kornblau gestrichen hatte, und alte Bierkästen aus Holz, die sie tiefrot bemalt und mit Samt bezogen hatte. Die Wände waren nackt und weiß. Der einzige Schmuck war ihre Gitarre, die sie an die Wand gehängt hatte. Es war sehr warm geworden, und die laue Nachtluft kam durch das gardinenlose Fenster und zog den Rauch unserer Joints hinaus. Wir waren nackt und hatten uns geliebt, und sie lag halb auf der Seite und zeichnete abstrakte Figuren auf meinen Bauch. Ihre Brust berührte meinen Arm, und ich fühlte mich warm und leicht vom Sex und vom Marihuana und war bei dem Gedanken an meine Abreise traurig und froh zugleich.
    Aber ich hatte und pflegte auch den Trieb der Rastlosigkeit.
    Füße waren zum Wandern da. Der Nomade war für mich ein romantisches Wesen, und ich verstand mich selber als modernen Nomaden, dem die ganze Welt zur Verfügung stand. Nie wollte ich mehr besitzen, als in meinem Rucksack Platz hatte. Andere konnten singen. Ich konnte Fotos machen. Fotos konnten überall verkauft werden. Ich brauchte nur das Nötigste. Ich war zwanzig und hoffnungslos romantisch. Ich hatte die mittlere Reife. Ich hatte ein halbes Jahr in einer Autolackiererei gearbeitet und Geld zur Seite gelegt. Ich hatte meine Wehrpflicht vom achtzehnten bis zum neunzehnten Lebensjahr erfüllt und damit ein Jahr der Nation geschenkt. Eigentlich war es in meiner Szene und zu jener Zeit üblich, den Wehrdienst zu verweigern, aber der Ersatzdienst hätte sechzehn Monate gedauert, und darauf hatte ich keinen Bock. Danach hatte ich als Erd-und Betonarbeiter malocht und gespart. Ich hatte genug verdient, um ein bißchen zu reisen, und hatte den anderen WGlern nichts von meiner kleinen Summe erzählt, die auf einem Konto in Odense auf mich wartete. Ich nannte sie mein Freiheitskapital.
    Plötzlich erinnerte ich mich daran, daß ich Lola in dieser Nacht oder eher am frühen Morgen fotografiert hatte, denn das Licht fiel schon durchs Fenster. Ich ging zum Koffer und schaute nach, während sich der Erinnerungsfilm in meinem berauschten Kopf abspulte. Ich sah die Szene deutlich vor mir.
    Sie sitzt aufrecht und nackt im Bett, hebt die Arme über den Kopf, zieht das lange Haar mit, und ihre Brüste heben sich. Ihre langen Beine sind ein wenig zur Seite gebeugt, so daß sie der Kleinen Meerjungfrau gleicht. Es muß ein schönes Bild gewesen sein, aber ich habe es nicht aufbewahrt. Es lag nicht im Koffer.
    Einen Augenblick lang war ich sehr enttäuscht, aber dann setzte ich mich wieder im Schneidersitz auf den Boden und betrachtete das Bild von Lola und Ernst am Hafen in Bogense und erinnerte mich an die letzte Nacht mit ihr.
    »Wo kommst du eigentlich her, Lola?« hatte ich gefragt.
    »Nirgendwoher«, hatte sie geantwortet.
    »Wir kommen alle irgendwoher, und wir gehen alle irgendwohin.«
    »Ich bin in einer Offiziersfamilie in Vordingborg aufgewachsen, aber ich stamme aus

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