Der Augenblick der Wahrheit
England. Ich bin adoptiert.
Ich glaube, ich bin adelig. Alles ein großer Skandal«, hatte sie gesagt.
Sie erfand sich die ganze Zeit selber und teilte sich neue Rollen und Gesichter zu, neue Identitäten und Vorgeschichten, sie war die Produzentin ihrer eigenen Geschichte und kümmerte sich nicht darum, daß sie sich in Lügen und Widersprüche verwickelte. Wenn sie eine neue Legende schuf, glaubte sie steif und fest an ihre Richtigkeit. In der WG hatte sie früher behauptet, sie sei die Tochter einer alleinstehenden Frau, die in Kopenhagen am Suff zugrunde gegangen sei. Ernst, wußte ich, hatte sie erzählt, sie sei als Älteste von sechs Kindern in einer armen Häuslerfamilie an der Westküste aufgewachsen. Ihr Dänisch verriet sie nicht. Ich kam von Fünen, was man meiner Aussprache anhörte, obwohl ich schon damals versuchte, das Reichsdänische oder Arbeiterkopenhagensche zu markieren, aber sie sprach vornehm und weich, ein wenig wie in den Schwarzweiß-Filmen aus den Vierzigern, mit dünner, nasaler Stimme, die die A flach machten wie bei der Oberschicht im Norden von Kopenhagen.
Ich widersprach ihr nicht. Sie küßte mich auf die Brust und liebkoste mich mit ihrer Zunge und weiter unten mit den Fingern, und ich spürte zwischen ihren Händen die Lust wieder wachsen.
Sie küßte mich auf die Nasenspitze, aufs Kinn und auf den Mund, während sie zwischendurch sagte: »Du hast so viele Talente, Peter. Du bist ein talentierter Liebhaber, du bist ein talentierter Fotograf, du bist ein talentierter Dichter, du bist ein talentierter Verführer, du bist ein talentierter Lügner, du bist ein talentierter Betrüger. Diese ganzen Talente werden dein Untergang sein, und mußt du wirklich abreisen?«
Ich schob sie sanft auf den Rücken und drang in sie ein.
»Peter, ich habe kein Talent. Mein einziges Talent ist, Männer zu verführen. Ich habe das große Talent, Männer dazu zu bringen, daß sie machen, was ich will. Warum machst du nicht, was ich will?«
Ihre Stimme war auch nach dreißig Jahren klar vernehmbar, als hätte sie nackt auf dem Bett des Hotelzimmers gelegen. Sie war so gespenstisch nah, daß ich vor Kälte schauderte und wie in Trance in meiner ganz eigenen Welt saß.
Es war Erinnerung und Erlebnis zugleich. Es war auf eine Art wie ein psychedelischer Trip. Es war schwer zu verstehen, was wirklich und was geträumt war. Als sähe ich mir einen Film an, so sah ich Peter Lime an jenem Morgen von dem Hof fortziehen, den Rucksack über die Schulter geworfen, er ging den einsamen Feldweg hinunter, der zur Landstraße führte. Ich hatte den Duft von Lolas Haut und ihrem Schoß in meiner Nase und an meinem Körper. Es war ein herrlicher früher Sommermorgen in Dänemark, an dem das Licht über den flachen Strandwiesen von so purer Schönheit war, als wäre es von einem genialen Künstler gemalt, und wenige zarte Wolken dahintrieben wie wunderbare Phantasiefiguren, vom begabtesten Bühnenbildner der Welt erschaffen. Über den Boden kroch feuchter grauer Frühnebel. Berauscht vom Marihuana, aber besonders vom Gefühl totaler Freiheit, schwenkte ich auf die Landstraße. Berauscht von der Freude über die ungeahnten Möglichkeiten des Lebens und das Gefühl der Unverwundbarkeit in meinem jungen, starken Körper.
Und ich glaube nicht, daß ich vorher oder nachher so glücklich und leichten Mutes gewesen bin, ohne eine einzige Sorge, nur naiv, ganz unbekümmert glücklich darüber, genau in diesem Augenblick der Geschichte am Leben zu sein.
Die Welt lag mir zu Füßen und wartete darauf, erobert zu werden.
13
Rot, rund und heiß lag Madrids Stierkampfarena Las Ventas in der späten Nachmittagssonne, als mich das Taxi am Sonntag kurz vor fünf absetzte. Vor der Arena herrschte das übliche Menschengewimmel und ein infernalischer Lärm hupender Autos, schreiender Händler und trillernder Verkehrspolizisten, die versuchten, ein wenig Ordnung in das Chaos zu bringen.
Süßigkeiten-und Nußverkäufer neben Buden mit Bier und Wasser, Wagen mit Spielzeug und Plakaten, häßlichen Stoffstieren, falschen Degen und capas und eine summende Erwartung, die, wie ich vergessen hatte, vor einem Stierkampf immer in der Luft vibriert und von der ich sofort angesteckt wurde. Meine Sinne waren wach, als läge eine lange Lethargie hinter mir. Ich sah das Leben um mich herum und nicht nur die Kälte in meinem Innern. Mit den farbenprächtigen Billetts in der Hand bewegte sich die Menge zum Eingang der Arena, die sich vor
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