Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Die Vögel nutzen die Pause und zwitschern heftig. »Der eine«, sagt Hildegard, »ist uns an Silvester zugeflogen, einfach so. Deshalb heißt der Silvester, den anderen haben wir dazugeholt, der heißt Roland.« Zwei aus dem Team schauen kurz herein, begrüßen uns freundlich, tauschen mit Hildegard ein paar Informationen aus und gehen wieder. Frau Kroll lacht sehr, weil eine Betreuerin beinahe über meine am Boden stehende Tasche gefallen wäre. »Es geht nirgends gemütlicher zu wie hier«, sagt Frau Kroll. »Ja, das ist ein Paradies! Wenn man bedenkt, das liegt mitten in Berlin! Kein Auto, keine Fußgänger. Eine Ruhe haben wir hier! Selbst im Stadtpark dagegen ist es laut … Kommen Sie von einer Firma?!« fragt sie unvermittelt in geschäftsmäßigem Ton. Wir sagen: »Nein, von der Zeitung.« »Ne, Zeitung lese ich nicht!« sagt Frau Kroll entschieden. Hildegard blättert in einem Fotoalbum, und Frau Kroll fügt rügend hinzu: »Manche sind bis elf, halb zwölf vor dem Fernseher. Ich nicht! Das ganze Leben ist Fernsehen.« Sie lacht sehr, während die beiden anderen Frauen unter dem Mangel an Ansprache und Zuwendung mürrisch erstarren. Hier wird transparent, wie fein gewebt die Fäden der Konversation sich miteinander verschränken, wenn das Schiffchen der Rede von einer zur anderen Seite hin und her bewegt wird, und wie nichts davon entsteht, wenn sich das Interesse auf nur einen Faden richtet. Das betrifft natürlich auch Gespräche generell.
Hildegard zeigt uns Fotos. »Hier, eine Bewohnerin, die leider schon gestorben ist, sie war unsere Älteste gewesen, mit 98. Und das ist ›Sabbel‹, der Hund einer Kollegin, der immer hier war, und der hatte sich auch verabschiedet von der sterbenden Bewohnerin, sie hat ihn gestreichelt. Er ist in ihr Zimmer gegangen, hat es geahnt. Seit kurzem ist ›Sabbel‹ auch tot«, erklärt Hildegard, und Irmchen sagt zögernd: »Ach ja?« Hildegard legt das Album zur Seite, deutet diskret zum Küchentisch und stellt uns Frau Kurfürst vor, die immer noch, oder wieder, eine Zigarette raucht und blicklos über einer Zeitung sitzt. Sie schweigt. »Frau Kurfürst war bei der AEG früher, sie fuhr ein Auto, war sehr emanzipiert, muß man sagen. Sie mußte unlängst wegen einem Sturz ins Krankenhaus, und das ist für sie sehr schlimm gewesen, besonders psychisch, wodurch sich die Demenz sehr verstärkt hat. Erst jetzt, allmählich, scheint es wieder etwas besser zu werden. Um Ostern herum war ihr Sohn da, er kam aus England. Er ist ja nun auch schon über sechzig. Es hat ihn sehr getroffen, daß seine Mutter ihn nicht mehr erkannt hat. Wir machen ja auch viel Biographiearbeit, um das eigene Leben den Leuten auch immer wieder in Erinnerung rufen zu können. Wir gucken oft gemeinsam alte Fotos an. Und Frau Kurfürst hat also von hundert Fotos, die sie vielleicht hat, nur noch auf die paar reagiert aus ihrer Kindheit. Und da habe ich ihr dann ein Foto gezeigt, auf dem der Sohn als Kind mit seiner Schwester zu sehen war, und sagte zu ihr: Na, jetzt schaun Sie sich das mal an, hier sitzt der Mann, ihr Sohn, wie hat der sich verändert! Und sie hat ihn einen kurzen Moment angeschaut, zum ersten Mal, und sagte ihm ganz freundlich: Nun sagen Sie mal, sind Sie wirklich derselbe wie auf dem Bild da? Nachdem er schon so traurig war, hat es ihn wenigstens ein bißchen gefreut, daß sie es immerhin in Erwägung gezogen hat, daß er ihr Sohn ist.«
Wir verlassen die Küche mit einem Abschiedsgruß, verabschieden uns auch von den drei Bewohnerinnen nebenan. Irmchen, vermutet Hildegard, möchte sich gerne auf ihr Zimmer begeben, Musik hören und etwas Schokolade essen. Frau Bolzmann verabschiedet sich formvollendet, und Frau Kroll erzählt, daß sie jeden Morgen betet. Auf die Frage nach dem Gebet, sagt sie es brav auf wie ein Kind: »Wie fröhlich bin ich aufgewacht, wie hab’ ich geschlafen so sanft die Nacht. Hab Dank im Himmel, du Vater mein, daß du hast wollen bei mir sein, beschütze mich auch diesen Tag, damit mir kein Leides geschehen mag. Amen. Die haben mich immer ausgelacht, meine drei Schwestern, weil ich gebetet habe, auch meine drei Brüder, die in Stalingrad geblieben sind, haben gelacht über mich. Die sind alle tot, aber ich lebe noch!« Sie ruft uns zum Abschied mit Geschäftsstimme nach: »Und kommen Sie bald mal wieder.« Hildegard legt den Arm um die sich nunmehr unsicher zur Tür hinausbewegende Frau Irmchen und sagt: »Gleich geht es leichter. Im Flur ist der
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