Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
offen ins Wohnzimmer über, beide Räume liegen nach hinten, zum WG-eigenen Garten hin. Der Blick kann hinausschweifen zu blühenden Sträuchern und Blumen, auf die Sonnenschirme und weißen Stühle und den angrenzenden Kindergarten. Auf Gardinen hat man verzichtet. Sonst aber ist alles da, was Frauen dieser Generation schätzen, vom großen alten Vertiko voller Topfpflanzen über die Stehlampe, den Vogelkäfig, die Uhr, die Wandbilder mit Birken-, Berg- und Schäfermotiven, Fernseher, Plattenspieler nebst großer Plattensammlung bis zum Couchtisch, Sesseln und zwei großen Sofas, auf denen drei der Bewohnerinnen sitzen. Die Vögel zwitschern munter. Hildegard Eichhorn zeigt auf uns und sagt: »Das hier also sind die Damen von der Presse, von denen ich Ihnen erzählt habe.« Alle Augen richten sich auf uns. »Von welcher Zeitung?« fragt eine der Frauen. Auf unsere Antwort hin sagt sie streng: »Aha!«
Hildegard bittet uns, Platz zu nehmen, und sagt in höflichem Tonfall, ohne diesen undistanzierten Unterton und dieses Du und Wir, das in der Pflege an der Tagesordnung ist: »Ich darf Sie eben alle mal kurz vorstellen. Also, es wohnen sechs Damen hier zusammen. 7 Zwei unserer Bewohnerinnen sind noch in ihrem Zimmer bzw. im Bett, jeder hat seine individuellen Aufsteh- und Frühstückszeiten bei uns. Hier zur Linken, das ist Frau Irmgard – sie möchte Irmchen genannt werden. Sie ist jetzt auch schon fünf Jahre hier, seit Bestehen unserer WG. Sie hat früher bei der BfA gearbeitet und vermißt diese Arbeit überhaupt nicht.« Irmchen lächelt mild, richtet ihren zarten Körper noch mehr auf und preßt ein Päckchen Tempo-Taschentücher an die Brust. Sie trägt Hosen und goldene, weiche Hausschuhe. »Irmchen hat früher gesteppt, das war und ist ihre Leidenschaft. Sie haben, glaube ich, doch vor fünf Wochen hier noch gesteppt, Irmchen, zum Radetzki-Marsch?« Irmchen schnellt von ihrem Sessel hoch, umklammert ihre Taschentücher, summt und beginnt ihre Füße in den goldenen Schuhen im typischen Stepptanzschritt mühelos zu bewegen, wirkt konzentriert und locker. Dann bricht sie ab, bedauert die schlechten Schuhe und setzt sich in ihren Sessel. »Und das mit 83!« sagt Hildegard. »Und hier in der Mitte, darf ich Frau Schneidermeisterin Kroll vorstellen.« »Das war einmal!« sagt Frau Kroll mit fester Stimme und verbindlichem Tonfall. Sie trägt ein geblümtes Kleid, ist sportlich hager, ihre Haut wirkt leicht sonnengebräunt. Meine Frage, was sie geschneidert hat, muß ich laut wiederholen, sie hört sehr schlecht. »Kostüme, Anzüge. Aber nur mein Mann, er war der Schneidermeister. Ich war Frau Schneidermeister, und ich habe den Haushalt gemacht.« »Aber Sie selber, Frau Kroll, hatten doch auch einen Beruf«, assistiert Hildegard. »Was für einen?« fragt Frau Kroll interessiert. »Sie waren doch Kindergärtnerin.« »Ja, ja«, ruft Frau Kroll angenehm überrascht. »Früher war das – im Riesengebirge bin ich zu Hause. Schneekoppe. Da haben wir ein Haus gehabt. Da komme ich her. Riesengebirge, deutsches Gebirge, meine liebe Heimat, du!« zitiert sie. »Frau Kroll ist mit 95 Jahren unsere älteste Bewohnerin«, fügt Hildegard hinzu, und wendet sich zur Frau zu unserer Rechten. Sie hat dunkles, ungefärbtes Haar und saß die ganze Zeit über mit gesenkten Augen und den Händen auf ihren Knien auf dem Sofa. »Frau Bolzmann, ich möchte Sie auch kurz vorstellen, oder besser, Sie erzählen einfach selbst ein bißchen von sich, was Sie früher so gemacht haben?« Frau Bolzmann blickt uns prüfend an, schiebt die Unterlippe ein wenig vor und sagt ruhig: »Was soll ich sagen, was habe ich gemacht früher, na, ich war in der Papierbranche! Habe Kuverts geklebt an der Maschine, Briefkuverts. Das war Akkordarbeit. Während der Kriegszeit war ich dienstverpflichtet in Oberschöneweide, auch in einer Fabrik. Nun sitze ich hier, und mein Mann ist schon etliche Jahre tot – der hat ja nur gesoffen, gesoffen gesoffen! Ich hatte immer Angst.« Sie zeigt sie auf ihre linke Brust und sagt: »Die sitzt da, die Angst, unterhalb vom Herzen, und manchmal hab’ ich davon solches Bauchweh!«
»Frau Bolzmann hat eine Tochter und einen Enkel«, fügt Hildegard hinzu, »sie ist eine der wenigen hier im Moment, die Angehörige haben.« Auf meine Frage nach ihrem Alter, möchte sie, daß ich es schätze; 75 bis 80 schätze ich. »Ne, 85 bin ich!« sagt sie zufrieden, und der Schimmer eines Lächelns überfliegt ihr ernstes Gesicht.
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