Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Haltegriff.« An der offenen Tür eines geräumigen, mit privatem Mobiliar wohnlich ausgestatteten Zimmers, sitzt eine korpulente Frau in ihrem Sessel. Eines ihrer Beine ist gewickelt. »Hallo, Frau Hirschfeld, darf ich Ihnen diese beiden Damen von der Zeitung vorstellen, sie werden was schreiben über die Wohngemeinschaft hier.« »Na ja, das macht doch nichts!« sagt Frau Hirschfeld in beruhigendem Tonfall. »Wollen Sie nach vorne kommen, oder wollen Sie hier sitzen bleiben, so ganz ohne Gesellschaft?« fragt Hildegard, während sie Irmchen, die auf der Toilette ist, zurückerwartet. »Ich habe nie Gesellschaft«, sagt Frau Hirschfeld entschieden, »ich will meine Ruhe haben. Ich hab’ mein Leben lang genug Gesellschaft gehabt. Ich hatte Kinder! Aber irgendwann gehen die ja dann weg. Mein Sohn ist Koch …« Wir verabschieden uns und wünschen alles Gute, sie dankt. Frau Irmchen wird in ihr Zimmer geführt.
Danach verlassen wir mit Hildegard die WG, um zu ihr nach Hause zu fahren, zum Gespräch. Sie erklärt, daß es keinerlei Büro oder Aufenthaltsraum fürs Personal gibt in dieser Wohnung, denn Mieter sind die sechs Frauen, und auch das Pflegeteam ist sozusagen nur zu Besuch. Wir fragen nach den Kosten für die Bewohner.
»Also 200 Euro Mietanteil – der an den Vermieter geht –, dazu 210 Euro Wirtschaftsgeld für Essen usw., die Pflegekosten betragen dann noch mal 3200 Euro, und davon gehen dann ab die 921 Euro, die die Pflegekasse bei ambulanter Pflege für die Pflegestufe zwei gewährt; für die meisten bezahlt das Sozialamt die Differenz, denn so viel Geld hat ja kaum einer.«
Hildegard Eichhorn wohnt im Ostteil der Stadt, im Bezirk Prenzlauer Berg, in einer kleinen Dreizimmerwohnung im sanierten Altbau. Wir dürfen wählen und entscheiden uns für die Küche. An den Wänden hängen Kinderzeichnungen, am Küchenschrank Familienfotos. Draußen, im kleinen, mit Efeu bewachsenen Hinterhof, fliegen weiße Blüten durch die Luft.
»Ich war ja früher ganz normal in der häuslichen Krankenpflege, das war damals wirklich noch ganzheitlich, also, nah am Körper, und natürlich gab es die emotionale Zuwendung, das Zuhören, Lachen, Streicheln und auch Trösten bis hin zur sogenannten Finalpflege, zur Sterbebegleitung. Das ist alles weggefallen, jetzt geht es nur noch nach Zeit und Zeiteinheiten. Emotionale Zuwendung ist nicht mehr vorgesehen, auch eine ›Finalpflege‹ ist nicht mehr abrechenbar, ist weggefallen, gestrichen aus Kostengründen. Jetzt müssen sie zum Sterben ins Krankenhaus. Schrecklich! Ich bin so glücklich, daß wir diese WG gegründet haben, denn wir kümmern uns 24 Stunden um unsere Bewohner. Und da sind alle Formen der menschlichen Zuwendung möglich, bei dieser Art der Organisation der Pflege, weil eben das Geld zusammengeschmissen wird und alles an einem Ort stattfinden kann. Bei uns dürfen die Bewohner auch sterben, in ihrem eigenen Zimmer, wir schicken sie nicht weg, wenn die Pflege umfangreicher und intensiver wird. Also, keine Verlegung aus Kostengründen ins Krankenhaus! Und es ist ja so: Wer in eine WG geht und gut betreut wird, der stirbt nicht so schnell. Der ist sozusagen ein ewiger Kunde! Das muß man wirklich sehen. Und der muß auch nicht wegen jedem Pups ins Krankenhaus, weil wir ja rund um die Uhr da sind.
Ganz wichtig ist natürlich fürs Gelingen – und das kann man gar nicht genug herausstreichen – ein gut zusammenarbeitendes, gut motiviertes Team. Und das haben wir geschafft. Wir arbeiten alle auf gleicher Augenhöhe, ganz ohne Hierarchie. Und wir sind uns einig im Konzept. Das ist enorm wichtig, denn eine schlecht geführte WG wäre die Hölle für die Bewohner, grade für Demente, die sich nicht wehren können. Eine schlecht geführte WG ist schlimmer als ein schlecht geführtes Heim! In einer gut geführten WG brauchen Sie in der Regel auch keine Psychopharmaka, da werden Unmut, Aggression, Stress – alles eben, was bei Demenzkranken auftritt – gar nicht erst groß hochkommen. Wir achten sehr aufmerksam auf die ganzen kleinen, leisen Schwingungen, und wir gehen gleich darauf ein, besänftigend, ablenkend. Die Verwirrung ist ja schon anstrengend genug für die Leute, da ist es erleichternd, wenn von uns alles, was die Seele stört, möglichst ferngehalten wird. Wir machen einen ganz individuellen Pflegeplan, mit biographischer Anamnese und allem, damit wir anknüpfen können und verstehen, damit wir die Vorlieben usw. kennen. Denn Demenzkranke sind
Weitere Kostenlose Bücher