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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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katholische Theologie. 1971 erstes Staatsexamen i. München, 1974 zweites Staatsexamen i. Berlin. 1974–1983 Gymnasiallehrerin a. d. Liebfrauen-Oberschule i. Berlin. 1985–1988 Katechetin i. Berlin/Zehlendorf (Grundschule). Ab 1988 vollkommene berufliche Neuorientierung, intensive zweijährige Ausbildung zur Altenpflegerin. Ab 1990 Arbeit i. d. Altenpflege b. d. Diakonie-Sozialstation Südstern. Interessensschwerpunkt: Pflege v. Schlaganfallpatienten u. Demenzkranken, mehrfach gerontopsychiatrische Fortbildung. Ende d. 90er Jahre zus. m. Kollegin Entwurf d. Konzeptes Wohngemeinschaft f. Demenzkranke. 1999 Mitbegründerin u. Aufbau d. »Demenz-WG Wrangelstraße«. Hildegard Eichhorn wurde 1944 i. Mönchengladbach als Tochter eines Finanzbeamten u. e. gelernten Krankenschwester geboren, sie ist geschieden u. hat eine Tochter.
    In einer Gesellschaft, in der das Alter keinerlei Ansehen genießt, in der man im mentalen und körperlichen Sinne nicht alt werden oder gar sein darf, darf man natürlich schon gar nicht bei lebendigem Leibe den Geist aufgeben. In unvordenklichen Zeiten, als die Großeltern noch zum Haushalt gehörten, bedeutete senil nichts anderes als greisenhaft. Das schloß Zahnverlust, schlechte Augen und geistigen Verfall ganz selbstverständlich mit ein. Im heutigen Sprachgebrauch ist Senilität eine Krankheit, eine Diagnose für Altersschwachsinn bei Alzheimer und Demenz. Der beleidigende Beiklang verweist auf die Ungehörigkeit dessen, der senil ist.
    Als eine der häufigsten chronischen Alterskrankheiten (in Mitteleuropa) gilt die Demenz. In Deutschland leben nach Schätzungen derzeit 1,3 bis 1,5 Millionen Demenzkranke, zwei Drittel davon sind Frauen, davon wiederum sind zwei Drittel 80 Jahre und älter. Die statistischen Berechnungen weissagen eine wachsende Flut von Neuerkrankungen (jährlich 200000 Neuerkrankungen, davon 125000 vom Alzheimertyp). Demente müssen versorgt und betreut werden. Ihre Pflege, ist kostenintensiv. Ein professionell betreuter Demenzkranker kostet jährlich leicht 50000 Euro oder mehr, was ihn, zusammen mit den übrigen moribunden Alten, zu einem attraktiven Geschäftsgegenstand werden läßt. Auf den einschlägigen Fachmessen und Kongressen rund ums Altenpflegegeschäft hat sich seit der Einführung der Pflegeversicherung viel Jubel abgezeichnet. Das »Marktsegment Altenpflege« wird als »Boombranche mit rentablen Zuwächsen« gefeiert, 37 Milliarden Euro werden in der Branche 2005 erwartet, 44 Milliarden für 2010, 2020 sollen es 66,5 und 2050 gar 200 Milliarden sein, wird prognostiziert. Nur ist zu befürchten, daß in Ermangelung des Geldes nicht nur die Branche auf der Strecke bleibt, sondern zuallererst die pflegebedürftigen Alten, wodurch dann allerdings – und hier wechseln wir vom Jargon der Unternehmerseite zu dem der Versicherungsrechtler – endlich ein »sozialverträgliches Frühableben« zum Zuge käme.
    Angesichts dessen kann froh sein, wer schon heute dement ist und z. B. in einer der ambulant betreuten Wohngemeinschaften unterkommen konnte, die es in Berlin seit dem Ende der 90er Jahre gibt. Sie sind eine menschenwürdige Alternative zur Verwahrlosungswahrscheinlichkeit in den Pflegeheimen, die in ihren Werbeprospekten zwar viel von »Begleitung« reden, die dann aber vielfach zum Dekubitus führt, in der Realität. Die Berliner WGs haben eine Selbstverpflichtung zur Qualitätskontrolle unterschrieben. (Initiator ist der Verein für Selbstbestimmtes Wohnen im Alter e. V. SWA, der auch Richtlinien für die architektonischen, pflegerischen und personellen Grundvoraussetzungen solcher WGs erarbeitet hat und zusammen mit der Alzheimer-Gesellschaft die Dinge im Auge behält.) Da es sich bei den WGs formaljuristisch nicht um Heime handelt, unterliegen sie auch nicht der staatlichen Heimaufsicht. Die WG ist ein sensibles Pflänzchen, dessen Gedeih und Verderb abhängt von der menschlichen Qualität des Pflegeteams und natürlich vom wirtschaftlichen Gebaren der Pflegedienste.
    Am Morgen des 27. April besuchen wir in der Wrangelstraße in Kreuzberg die Demenz-WG von Hildegard Eichhorn. Sie führt uns im Erdgeschoß des ehemaligen Pfarrgemeindehauses in eine geräumige Wohnküche. Es herrscht vertraute Vielfalt an Gewürzen, Kräutern, Säften; man sieht und riecht, hier wird gut gekocht und gern gegessen. Am großen hölzernen Gemeinschaftstisch sitzt eine alte Frau und raucht. Uns und unseren Morgengruß beachtet sie nicht. Die Küche geht

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