Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
ja nicht geprägt durch immer weiter fortschreitende Abstumpfung und Verblödung bis hin zum Verlöschen jeder Persönlichkeit, das ist ein vollkommen überholtes Klischee. Demenz ist ein Prozeß mit individueller Entwicklung und wird in einem ganz gravierenden Ausmaß von sozialpsychologischen Faktoren beeinflußt, davon, wie der Demente teilnehmen kann an einem anregenden Alltagsleben, an Kommunikation, an der Beschäftigung mit alltäglichen Dingen. Sie können sich ja nicht selbst beschäftigen. Demente lesen nicht, sie haben vergessen, was ein Text ist, ein Buchstabe, ein Buch. Die Gefühlsebene hat sozusagen die Aufgaben des Kopfes übernommen. Und da sind die Empfindungen sehr reich und differenziert, nur ausdrücken können sie sie eben selten. Deshalb ist es so besonders wichtig, daß die Pflegenden, neben der Erfahrung und dem technischen Können in der Altenpflege, eine Fähigkeit zur Empathie mitbringen! Man muß sich hineinfühlen können und unter dem wirren, unstrukturierten und unvorhersehbaren Verhalten den Kern entdecken, die Wünsche, Ängste, Empfindungen.
Nehmen wir als Beispiel Irmchen. Sie braucht das Gefühl, mindestens vier Tempo-Taschentücher zu haben, am besten in jeder Tasche noch mal zehn, sonst fühlt sie sich nicht sicher und ist verzweifelt. Das hat eine ganze Weile gedauert, bis wir das rausgekriegt hatten. Dabei ist sie jemand, der immer nur die Nase hochzieht, das ist regelrecht ein Tick. Sie hat diagnostizierten Alzheimer, was ganz selten ist, also, daß einer alle Ausschlußdiagnosen hat. Sie ist auf eine merkwürdige Weise blind – das hat kein Augenarzt rausgekriegt, an den Augen liegt es nicht –, sie kann das Bild anscheinend im Gehirn gar nicht verarbeiten. Sie erkennt und sieht das Essen auf dem Teller nicht, ich glaube, auch unsere Gesichter sieht sie nicht. Das ist nur eine Form ihrer Orientierungslosigkeit. Aber wie sie aufblüht, wenn man bei ihr den roten Faden findet, das haben Sie ja gesehen. Und sie liebt Witze, sie liebt Deftiges, obgleich sie andererseits sehr schamhaft ist. Sie liebt alles, was Wortspiel ist, und natürlich Musik, Gesang und das Lyrische. Das glauben Sie nicht, wie sie es regelrecht verkostet, wenn man zu ihr sagt: ›Ach wenn’s doch erst gelinder und Frühling wieder wär …‹
Es sind diese ganz individuellen Rituale, die so wichtig sind, die dieses ›Verkosten‹ möglich machen. Das Wort ist übrigens nicht von mir, es ist von Ignatius von Loyola, der sagte nämlich: ›Nicht das viele Wissen bringt die Seele zum Frieden, sondern das innere Fühlen und Verkosten der Dinge.‹ Und das andere ist eben dieses starke Sicherheitsgefühl, das sich an scheinbar unwichtige Kleinigkeiten wie Tempo-Taschentücher knüpft. Bei Frau Kurfürst, unserer Raucherin, da ist es die Handtasche. Die braucht sie. Sie könnte da irgendwo in der Unterhose sitzen, aber die Handtasche, die braucht sie. Beim Waschen wird sie sofort unruhig, und man muß sie ihr zwischendurch mal zeigen. Sie sagt nicht, was sie will, wir müssen es wissen. Nach dem Frühstück die Zigarette und die Zeitung und das Sitzen auf ihrem festen Platz, das ist alles immens wichtig. Oder Frau Bolzmann, die ja nicht dement ist, sondern Angstpatientin, für sie ist ganz wichtig, daß sie jeden Dienstag im Rollstuhl in die Markthalle gebracht wird. Dort trinkt sie einen Kaffee, und sie gibt dem jungen Mann, der sie fährt, einen Kaffee aus. Das liebt sie sehr. Diesen Termin hat sie immer im Kopf, darauf freut sie sich. Oder Frau Kroll, Frau Schneidermeisterin Kroll, die jeden Tag Kartoffeln schält. Sie schält nicht einfach nur Kartoffeln. Nein. Da muß die Zeitung liegen, das Messer mit dem blauen Griff, und dann schält sie so, wie sie das siebzig Jahre lang gemacht hat. Die Schalen schlägt sie in die Zeitung ein, faltet das so und so, ganz ordentlich, und sie bringt das dann auch selber weg. Wenn alles gut ist, dann bewegt sie sich in ihrer Küche, dann weiß sie genau, wo der Abfall ist, das Geschirr, die Töpfe. Und Frau Hirschfeld, die in ihrem Zimmer bleibt und Gesellschaft nicht so mag, die ist eine hervorragende Köchin und Abschmeckerin, das macht sie mit sicherer Hand; ihr Sohn ist ja auch Koch geworden.
Für das alles braucht es Zeit und Langsamkeit, Geduld. Wenn der Tag eine Struktur hat, durch viele, viele Alltagsrituale, dann sehen Sie, wie die Leute aufleben, auch wenn sie nicht mehr viel selbst machen können – wir machen ja den Einkauf und den gesamten Haushalt,
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