Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
sozusagen nebenbei –, aber sie haben irgendwie das Gefühl, beteiligt zu sein. Sehr wichtig ist das gemeinsame Mittagessen. Den großen Tisch haben wir uns extra machen lassen für die Küche, damit jeder seiner festen Platz hat. Und ich finde es auch ganz besonders wichtig, daß wir normal mitessen – im Heim läuft das ja alles ganz getrennt. Wir essen, und nebenbei sind wir behilflich beim Essen, soweit es notwendig ist. Und wir reden viel, denn untereinander findet ja kaum Kommunikation statt, diese Fähigkeiten sind weitgehend verloren, wenn aber ein Anstoß kommt, wenn eine Stimmung entsteht und bestimmte Worte fallen, dann geht es auf einmal los, da kann jemand wie Frau Kroll von morgens bis abends erzählen. Aber der Anstoß ist eben nötig, die Assistenz und das Einfühlungsvermögen. Das brauchen wir ja letztlich alle.«
Wir bitten nun um ein paar Details zur eigenen Biografie: »Ich? Also, ich bin jetzt 61 Jahre, bin in der Nähe von Mönchengladbach geboren und in einem katholischen Haushalt aufgewachsen, in einer sehr offenen, kirchlichen Weise. Später wurde ich dann eher etwas kirchenkritisch, und auch deshalb konnte ich nicht Gymnasiallehrerin für Latein und katholische Theologie bleiben. Aber es hat mich auch das Pädogogische nicht interessiert. Ich wollte mit den Händen arbeiten, mit Menschen, und das war dann der Grund, weshalb ich diese zweite Ausbildung zur Altenpflegerin machte. Ich hatte und habe ein ausgesprochen positives Echo in mir, wenn ich an Alter denke. Auch für das Körperliche, mit allem, auch negativen Gerüchen, sag ich mal, das ist alles positiv besetzt. Die Ursache ist meine Oma. Die Oma, das war die nicht zensierende Instanz in meinem Leben. Ich bin nicht aufgewachsen bei ihr, aber die Aufenthalte waren prägend. Nach dem Tod meines Großvaters durfte ich mal so zwei Monate lang bei ihr leben und im Bett des Verstorbenen bei ihr schlafen – ich hatte ihn noch da liegen sehen, als Toten. Als Kind ist man da anders. Und vielleicht bin ich das auch ein bißchen geblieben. Jedenfalls kristallisierte sich heraus, daß mir das gefällt, mit Alten. Und die Defizite des Alters, besonders auch bei Schlaganfallpatienten und Dementen, die fand ich, ehrlich gesagt, eigentlich immer verständlich. Immer! Also, mein erster Blick – und da könne Sie mir einen ›Knalldementen‹ vorstellen, der nichts mehr sagen kann –, der richtet sich nicht auf die Demenz. Der Blick ist mehr von emotionaler Art, da passiert ja was, wenn man einem Menschen gegenübersteht, da entsteht ein Kontakt, der wird fühlbar, und der ist auch da beim Gegenüber, ganz eindeutig! Und ich bin nicht alleine mit dieser Sicht, ich habe Kollegen, die das auch so sehen.
Wissen Sie, das ist etwas ganz anderes, auf dieser auch sehr stark emotionalen Ebene arbeiten zu können. Es war nicht diese Flickschusterei wie in der Schulpädagogik. Vielleicht ist es so, vielleicht kann ich das so sagen: Wissen Sie, mir gefällt einfach, so direkt zu sehen, wo innen drin dieses Leben entsteht. Also, jetzt im Sinne einer seelischen Lebhaftigkeit, die die Person dann auch positiv stimmt. Das gefällt mir. Ich selber war mal – das ist aber schon lange her – in einem seelische Zustand, der weit davon entfernt war. Ich würde sagen, ich war richtig in einer tiefen Depression drin. Und ich weiß, wie toll das ist, wenn man wieder rausfindet und das, was ich beschrieben habe, wiederfindet. Also, es ist immer von Vorteil, wenn man in der eigenen Biographie solche Erfahrungen hat, aus denen man schöpfen kann. Und wer gut gestimmt ist, das sehe ich bei unseren so stark beeinträchtigten Bewohnern, der wird auch angeregt. Wir sehen dann viel deutlicher, da und da sind noch Quellen, die Zufriedenheit und auch Selbstbewußtsein für den Moment schaffen. Oder, was auch gelingt, viel leichter in Fähigkeiten und Tätigkeiten umgemünzt werden können, die sonst vollkommen verschüttet würden. Und das sieht vielleicht nach nichts aus, einen Teller auf den Tisch stellen, Kartoffeln schälen, eine Zeitung falten zu können, aber für Frau Kroll ist das lebenswichtig. Früher gingen einige der Damen ja noch mit einkaufen in die Markthalle hier, dann wurden sie aber älter und gebrechlicher, und blieben lieber zu Hause. Wissen Sie, wir machen mit den Leuten kein zielgerichtetes Mobilisierungs- und Orientierungstraining mehr, wir machen mit ihnen das, was sie im Rahmen ihrer Grenzen leisten können. Und leisten wollen, denn das muß
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