Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Orakelsache, und ich würde mich aus meiner Warte auf ganz dünnes Eis begeben, wenn nicht mal die Fachleute sich einig sind. Weder die Veterinäre noch die Humanvirologen können irgend etwas Substantielles sagen.«
Sie erzählt uns von der Pest: »Die erste große, wirklich ansteckende und tödliche Seuche mit historiographischer Darstellung ist ja die sogenannte Pest in Athen, die der griechische Historiograph Thukydides (430–396) beschrieben hat, unter Verzicht auf jeden mythologischen Rückgriff. Als Augenzeuge und mit scharfem Blick für die soziologische Komponente schildert er die Vorfälle im Sommer des Kriegsjahres 430 v. Chr. Die Beschreibung ist nicht lang – knapp sechs heutige Druckseiten –, aber sie lieferte quasi das Modell, muß man sagen, dafür, wie man die Geschichte einer Seuche beschreibt. Welche Epidemie das auch immer war, die Beschreibung der Abläufe läßt ein Muster erkennen, das spätere Chronisten wieder und wieder in ähnlichen Situationen repetierten, bis hin zur Berichterstattung unserer Tage: geographischer Ursprung und Ausbreitungsweg, die Unerhörtheit der Ereignisse, Hilflosigkeit der Ärzte, Versagen von Religion und menschlichen Bemühungen, Theorie der Brunnenvergiftung, heterogene und erschreckende Symptomatik der Krankheit, ihr fast immer tödlicher Verlauf (Überlebende sind immun), ausnahmslos alle Stände sind betroffen, Auflösung familiärer und freundschaftlicher Verbindungen aus Furcht vor Ansteckung, Vernachlässigung der Bestattungsriten, Abstumpfung und moralischer Verfall.
Und so ist auch die Historiographie des sogenannten Schwarzen Todes von 1348. Zuerst stand die Frage, wo er herkommt, wie er sich ausbreitet. Für die Chronisten ist die Pest zum ersten Mal auf der Krim aufgetaucht, im Frühjahr 1347. Sie kommt aber aus Zentralasien, wahrscheinlich über den Handel, mit den Pelzen verseuchter Nagetiere, entlang der Seidenstraße und durch kriegerische Expansionen. Das war aber nicht im Blick Europas, die Krim war quasi der alleräußerste Punkt des Blickfeldes. Gut, und dann hat es sich über den Seeweg ausgebreitet, die Leute sind geflüchtet, brachten die Pest nach Konstantinopel, nach Messina, und ebenfalls durch Handelskontakte kam sie im Spätherbst nach Genua, Venedig, Marseille, auf dem Landweg verbreitete sie sich weiter nach Apulien, in die Provence. Und das Jahr 1348 war dann das eigentliche Seuchenjahr mit der größten Ausdehnung in ganz Italien, West- und Mitteleuropa von Südwesten nach Nordosten, 1350 erreichte sie Skandinavien und das Baltikum und selbst Island und Grönland. Und es wurde natürlich vermerkt: Soundsoviele starben, soundso waren die Krankheitszeichen. Und was auch in der Geschichtsschreibung von vorneherein berücksichtigt wird – bei diesem Typ von Erkrankung –, sind die sozialen Folgen. Also: Auflösung von sozialen Bindungen. Oder Vernachlässigung von Pflichten, von seiten der Ärzte, der Behörden, der Kirche, denn viele von ihnen haben die Städte fluchtartig verlassen nach dem Ausbruch der Pest. Also, solche Entsolidarisierungsaspekte wurden aufgeschrieben. Und natürlich hat man sich mit dem Grund beschäftigt. Pest als ›Strafe Gottes‹ hat kaum überzeugt, jedenfalls nicht die intellektuelle Elite. Es mußte also etwas Säkulares sein, etwas, das alle betrifft, Gottlose und Fromme, Arme und Reiche, Juden und Nichtjuden: Das war die Luft, die alle atmen. Die Theorie vom ›Pesthauch‹ – es gab auch eine astrologische, aber bleiben wir bei der terrestrischen. Die Herkunft des ›Pesthauches‹ erklärte man sich im Zusammenhang mit einem ungewöhnlich heftigen Erdbeben, das im Januar 1347 ganz Oberitalien erschüttert hat und noch in Süddeutschland zu spüren war. Man dachte, es seien durch Verwerfungen und aufgerissene Spalte giftige Ausdünstungen aus dem Inneren der Erde freigesetzt worden, die ›Miasmen‹, die die verheerende Krankheit durch das Einatmen auslösten. Da sichtbar wurde, daß man sich die Pest auch durch den persönlichen Kontakt mit Erkrankten holen konnte, lag die Vermutung nahe, daß auch deren Atem solche giftigen Miasmen freisetzt. Das griechische Wort miasma bedeutet ›Schmutzfleck‹, und die Miasmenlehre, die bis zum 19. Jahrhundert eine große Rolle spielte, geht auf die Antike zurück. Die Vermeidung von Ausdünstungen und ›schlechter Luft‹ war von großer Bedeutung in der griechischen Heilkunde.
Heute wissen wir, die Pest ist eine bakterielle Erkrankung, sie
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