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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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auf Rußland gezeigt, daß sie noch mittelalterliche Krankheiten haben, während man sich hier mit Cholera und Pocken herumschlug. Das waren sozusagen ›moderne‹ Krankheiten, die Pest war bereits eine Krankheit des Orients. ›Im Orient holt man sich die Pest‹, das war so das Image. Das hat auch mit diesem ›Prestige‹ von Krankheiten zu tun, was ist wo, was ist exotisch und solche Dinge. Jedenfalls war die Pest für die Wissenschafts- und Medizingeschichte ein großer Einbruch, weil es eine Krankheit ist, die unbekannt war, d. h., man konnte sich nicht auf die Theorien von Alten stützen. Pest war die erste unbekannte Krankheit! Deswegen ist es eine Krankheit ohne Namen; Pest heißt einfach nur ›Seuche‹ – das ist übrigens ganz ähnlich wie bei Aids, was ›Aquiriertes Immundefizienz-Syndrom‹ heißt, das ist ja kein Name, das ist so bei jeder Krankheit, sonst wäre man nicht krank.
    Jedenfalls hat die Pest viel ausgelöst, im verwaltungsgeschichtlichen oder im juristischen Bereich, oder wie man das nennen soll, sie hat viele gesellschaftliche Veränderungen mit sich gebracht, ganz bestimmt!«
    Auf die Frage: »Und was lernen wir daraus?« sagt Frau Prof. Riha mit überraschender Schärfe im Ton: »Was man auf alle Fälle als Erstes lernt, ist, daß bei diesen einschneidenden Seuchen die verwaltungstechnische Bewältigung wichtiger ist als die medizinische. Die Medizin ist normalerweise individuellen Kranken verpflichtet, im Seuchenfall soll sie aber die globale Problematik bewältigen. Dazu ist die Medizin nicht gemacht, das müssen die Verwaltungsleute machen. Seuchen sind ein politisches Problem und untergeordnet ein medizinisches. Man schiebt der Medizin fremde Aufgaben unter, z. B. die ›Triage‹ (stammt aus der Militärmedizin, das Sortieren des ›Krankengutes‹ im Katastrophenfall durch Ärzte, nach der Faustregel, die noch Brauchbaren bekommen höchste Priorität bei der medizinischen Versorgung. Es gibt Kategorien und Sichtung per Schnelltest. Anm. G. G.). Sie ist nach unserem Verständnis demokratisch überhaupt nicht legitimiert. Ich bzw. der Arzt kann immer sagen: Die kriegen es, die es am nötigsten brauchen! Das ist ein objektives Kriterium. Die Politik weigert sich zu sagen, nicht alle kriegen es. Sie diskutiert nicht über Kriterien bzw. legt pseudowissenschaftliche Kriterien an. Es gibt keine wissenschaftliche Triage. Es gibt nur einen vorgeschobenen Konsens über ›mehr oder weniger wichtige‹ Notfälle.
    Prävention hingegen wird vernachlässigt von der Politik, wegen der Kosten. Bei uns hat im Moment auch der Katastrophenschutz kein gutes Prestige. Man setzt einfach die Bundeswehr in Marsch, denn ›freundlichere‹ und weniger machtbetonte Lösungen hätte man ja vorher üben müssen, mit engagierten Bürgern oder auch bei Übungen in der Schule, oder wir machen das nach einem Schneeballsystem. Die Geschichte zeigt aber, der Bürger wird im Katastrophen- bzw. im Seuchenfall immer entmündigt, er wird zum Objekt der Amtshandlungen gemacht. Ja, es könnte auch anders sein, wenn das ein politisches Ziel wäre, man könnte sagen, wir beziehen den Bürger mit ein in solchen Krisenfällen, und wir geben ihm rechtzeitig Gelegenheit, sich darauf vorzubereiten. Das könnte man doch sagen?!«
    Wir gehen nun zum biographischen Teil über und fragen unsere Gastgeberin, was sie eigentlich mal werden wollte. Sie lächelt und sagt: »Ich war ewig lang unentschlossen und habe mich dann für Medizin entschieden, weil ich gedacht habe, da kann ich so viel Diverses hinterher machen, das Spektrum ist ja ganz offen. Aber mein Motiv war nicht das ›Helfende‹ – das sagen die Medizinstudenten immer zuerst, daß sie studieren, um zu helfen. Merkwürdigerweise ich nicht. Das ist das Interessante. Das habe ich jetzt erst, seit ich Medizingeschichte mache, in der hippokratischen Medizin gemerkt. Mich interessierte immer das Professionelle am Helfen, also das Wissen darüber. Ich bin kein so karitativer Typ im Sinne von ›guter Samariter‹, habe mich aber schon früh auch mit der Medizinethik-Verbindung von Geschichte und Ethik beschäftigt. Und als ich dann hierher kam, 1996, habe ich auch gleich Ethikangebote gemacht. Das war hochinteressant; die Mediziner sind ausgeblieben, aber von den anderen Fakultäten kamen Studenten: Theologen, Juristen, Politologen, Soziologen. Es ist jetzt für die Mediziner ja Pflichtfach, seit zwei Jahren, und heißt: Geschichte-Theorie-Ethik der Medizin, in

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