Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Schutzheiliger der Ritter und Kriegsinvaliden und trug eine Rüstung, nun wurde er quasi ausgezogen und von Pfeilen durchbohrt dargestellt und war der Pestheilige. Später kam der heiligen Rochus hinzu, der als Pestheiliger sozusagen aus Italien importiert wurde.
Es war eine Zeit der Hochkonjunktur für Heil- und Schutzzauber, für magische Amulette, Scharlatane und Wunderheiler; sie waren wichtiger als das Wirken von ausgebildeten Ärzten und Chirurgen. Und da ist die Frage nach der Hilflosigkeit der Ärzte: Was konnten sie machen? Deren Angebot war neben dem Aderlaß vor allem das Aufschneiden der Pestbeulen – was nicht ganz verkehrt ist, weil damit ein Einbrechen der eitrigen Lymphknoten in die Blutbahn mit anschließender Sepsis verhindert werden konnte. Das waren so die ersten Maßnahmen bei der ersten Pestwelle, es hat sich aber später nichts Wesentliches geändert. Als Medikament wurde hauptsächlich ›Theriak‹ verabreicht – beliebt übrigens bis ins 20. Jahrhundert; es half tatsächlich gegen alles, indem es durch die u. a. darin enthaltenen Opiate die Stimmung hob und Schmerzen dämpfte. Und was die Hygiene betrifft, so war klar, daß man die Kranken isolieren mußte, zu Hause oder besser noch in den verwaisten ›Leprosorien‹, die, bis zum Abflauen dieser von den Kreuzfahrern nach Europa gebrachten Krankheit, zur Isolierung der Aussätzigen dienten. Wenn irgend-wo eine Brücke war vor dem Stadttor, dann lag das Leprosorium knapp jenseits der Brücke. In den späteren Jahrhunderten hat man dann kleinere Pesthäuser gebaut. Ebenso bekannt war, daß man sich nicht nur vor den Ausdünstungen schützen muß, z. B. mit aromatischen Kräutern vor Mund und Nase – so kam dieser lederne Schnabel zustande –, sondern auch die Hände mit ›Pestessig‹ zu waschen hat, vor und nach jedem Krankenbesuch. Und man hatte diese spezielle Kleidung, die sich überall ähnlich entwickelte, ebenso wie der ›Peststock‹, den man trug zum Zeichen dafür, daß man Kontakt mit Pestkranken hat. Die Kleidung war aus dickem Leinen oder Leder, zum Schutz des Arztes, und er legte sie ab, bevor er das eigene Haus betrat. Man hatte Sorge, den Krankheitsstoff zu übertragen, das Ansteckende, das ›Kontagium‹, was ja das zweite aus der Antike stammende Modell für übertragbare Krankheiten ist. Heute nennen wir das Kontagium Bakterien oder Viren, aber selbst nach der Entdeckung der Bakterien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat sich die eigentliche Bedeutung dieser Entdeckung nur allmählich durchgesetzt. Die Tuberkulose z. B., die ›Weiße Pest‹, glaubte man lange Zeit, im Sinne der Miasmenlehre, mit ›reiner, guter Luft‹ heilen zu können, und die Hygienebewegung meinte, das Kontagium in ungünstiger, beengter und unsauberer Wohnsituation verorten zu können. Aber das nur nebenbei.
Ganz kurz möchte ich noch auf die ›Brunnenvergiftung‹ kommen, auf die Judenpogrome, die es gab, die aber zu keiner flächenbrandartigen Ausbreitung geführt haben. Weil es einfach nicht plausibel war, die Seuche durch Einzelvergiftung von Brunnen zu erklären. Erstens starben Christen und gleichermaßen Juden an der Seuche, zweitens hatten die Ärzte ihre Theorie von Miasma und Kontagium. Und selbst der Papst hat die Judenpogrome abgelehnt. Wesentlich wirkungsmächtiger als die Sündenbockerklärung war die der Pest als Strafe für sündhaftes Verhalten, gegen die vor allem eine enorme Intensivierung von Frömmigkeit und Bußpraxis hilfreich schien. Und die Sorge, einen Tod ohne Sterbesakramente befürchten zu müssen, war sicher ein zentraler Bestandteil der allgemeinen Todesangst.«
Auf die Frage, wie hoch die Todesrate durch die Pest etwa war, denkt Frau Prof. Riha einen Moment nach und sagt dann: »Die Chronisten schreiben immer von ›entvölkerten‹ Landstrichen. Es soll angeblich Regionen gegeben haben, wo ihr 30 Prozent der Bevölkerung zum Opfer gefallen sind. Aber ich denke, im Durchschnitt waren es zehn Prozent; das ist schon viel, das ist mehr als die Grippetoten von 1918. Auf zehn Prozent wurden die Folgen des Zweiten Weltkrieges geschätzt, ungefähr. Das ist schon Entvölkerung in der Wahrnehmung. Die Pest blieb ja knapp 400 Jahre in Europa und flammte immer mal wieder regional begrenzt auf, zuletzt 1720 in Marseille. Aber wann die tatsächlich letzte war, ich bilde mir ein, die letzte in Europa wahrgenommene Pestwelle war im 18. Jahrhundert in Rußland. Und ganz Europa hat mit dem Finger
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