Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
bleibt nichts anderes übrig, als diese Jugendlichen dennoch zu einem bestimmten Ziel zu bringen, damit sie vielleicht mal eine Arbeit bekommen und dabei dann auch bestehen können.
Und es fehlen ja nicht nur schulische Kenntnisse, es fehlen auch ganz alltägliche Umgangsformen. Sie müssen sich ja präsentieren lernen. Wir üben mit ihnen z. B. das Telefonieren. Wir haben Holztelefone und üben, wie stelle ich mich vor. Das braucht man fürs Büro, auch fürs Callcenter, oder viele landen in der Telefonzentrale. Ich muß aber auch wissen, wie rufe ich ein Wohnungsamt an, wie setze ich mich höflich durch und werde nicht gleich wütend, knalle den Hörer auf?! Und ich sage nicht: ›Hier ist Frau Hermann‹, sondern ich sage nur: ›Hermann, guten Tag.‹ Wir üben auch, am Telefon zu ›lächeln‹, damit das freundlich rüberkommt. Und wir haben die sehr teuren elekronischen Kassen angeschafft, damit sie lernen, wie man die bedient. Eine Verkäuferin muß vielleicht nicht so perfekt schreiben können, aber sie sollte Gebrauchsanweisungen lesen können, auch eine Telefonnotiz machen können. Was auch noch ganz wichtig ist, ist Sprechen üben. Das ist ganz karg. Man ›macht‹, man ›tut‹, daneben gibt’s keine anderer Verben. Ein Satz wird nie zu Ende gesprochen, er läuft immer auf ein ›und so‹ hinaus. Also: ›Letztes Jahr, da war ich schwimmen und so.‹ Oder sie benutzen eine falsche Vergangenheitsform, ›ich war gewesen‹. Und ich möchte auch auf keinen Fall, daß jemand jeden Satz mit einem ›Ey‹ anfängt, es ist außerdem sehr unhöflich. Überhaupt sind die Höflichkeitsformen kaum entwickelt, bzw. sie haben eigene, besonders die männlichen Jugendlichen.
Zum Beispiel ›Respekt‹. Respekt heißt, daß man den anderen nicht komisch ›anmacht‹ oder anguckt. Also, in die Augen gucken, das kann manchmal unangenehm ausgehen, da werden sie richtig aggressiv, auch gegen Frauen. Die Mädchen kann man jederzeit angucken, die haben damit kein Problem. Aber die Knaben empfinden es als respektlos. Nun folgende Situation: Wenn ich einen Jugendlichen frage, wieso haben Sie da eben auf den Boden gespuckt? Beim nächsten Mal wischen Sie das auf! Dann kann es passieren, daß er sagt: ›Ey, Respekt, Alte!‹ Ich sage: ›Warum spucken Sie vor mir aus, wissen Sie nicht, daß das eine große Respektlosigkeit ist?!‹ Das begreifen sie nicht. Sie spucken einfach gedankenlos und gewohnheitsmäßig auf den Boden, Aber es gibt auch absichtliche Äußerungen. Viele Türken machen z. B. so ein bestimmtes Geräusch, sie ziehen die Spucke saugend durch die Zähne. Das ist ein Zeichen der Verachtung und auch sehr respektlos. Untereinander sind sie oft sehr intolerant. Konflikte entstehen aus nichtigem Anlaß, etwa bei einem Wortwechsel wie diesem: ›Was hast’n du heut an?!‹ ›Ey, hier, teuer genug!‹ ›Ey, sieht scheiße aus!‹ Und schon geht eine Schlägerei los. Mädchen streiten in der Regal verbal, werfen höchstens mal was auf den Boden. In all den Jahren an der Schule habe ich noch nie Gewalt zwischen Mädchen erlebt. Gut, die reden auch schon mal böse übereinander, sagen über eine Mitschülerin z.B: Das ist eine ›Sozialschlampe‹. Damit ist gemeint, das ist eine, die Kinder kriegt, um das Kindergeld zu kassieren. Ich versuche halt viel zu diskutieren, um eine Diskussionskultur einzuführen, damit sie lernen, einen Konflikt mit Argumenten auszutragen.
Aber es gibt zu diesen Problemen, Mangel an Wissen, Mangel an Disziplin, leider auch noch andere Probleme bei den Jugendlichen. Das Arbeitsamt hat dafür die Bezeichnung ›Multiple Vermittlungsprobleme‹. Wir haben z. B. Jugendliche mit Adipositas, die haben bereits Diabetes. Das sind richtige Kawenzmänner. Wir haben derart dicke Jugendliche, die können wir so gar nicht in irgendein Praktikum bringen, da sagt jeder Arbeitnehmer sofort ab. Unter ›Multiple Vermittlungsprobleme‹ fallen körperliche und seelische Leiden gleichermaßen. Also, ob Spina bifida, lernbehindert, Heimkind oder furchtbar geschlagenes Kind. Die werden alle in einen Topf geworfen. Und die psychische Behinderung hat oft zur Folge, daß sie so unter Medikamenten stehen, daß man das Gefühl hat, einem Maskenmenschen gegenüberzusitzen. So sehr sind sie sediert. Oder sie sind schwer depressiv, hängen nur rum und schaun elegisch aus dem Fenster. Es gibt eigentlich keine glücklichen Jugendlichen mehr – jedenfalls nicht in dieser Schicht der sozial Schwachen! Und
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