Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
Vom Netzwerk:
Zusatzstudium; die stellen wir ein für ein Jahr, und in der nächsten Ausschreibung heißt es: Lehrer kann jeder sein. Dann ist dieser Mensch wieder weg, weil er zu viel kostet.
    Das übt einen unheimlichen Druck auf das Personal aus. Und bei anderen Trägern, die nicht so viel – sagen wir mal, Querfinanzierung – machen können, denn das können sie nicht, da sieht es dann finster aus. Es gibt Träger, die ihren Sozialarbeitern 1300 Euro brutto zahlen, ihren Lehrern 1500 brutto, ihren Ausbildern 1400 brutto. Das werden alles Armutsrentner. Klar! Im letzten Jahr hat die Bundesagentur neun Milliarden Euro gespart. Deshalb haben wir ja die Arbeitslosenversicherung absenken dürfen, nicht? So hat jeder drei Euro mehr in der Tasche, wie es heißt. Bis auf die, die weniger in der Tasche haben. Das wird ja auch an den Jugendlichen eingespart und natürlich an unserem Geld. Aber es geht nicht nur ums Geld, es geht auch um die Verschwendung menschlicher Qualitäten. Denn wo soll denn das soziale Engagement, das Einfühlen nachher herkommen, wenn 30 Prozent der Leute an dem Betrieb und allem überhaupt kein Interesse mehr haben. Weil sie Teilzeit arbeiten, oder weil sie wissen, in einem Jahr gehe ich wieder. Oder spätestens in zwei Jahren, wo ich die Jugendlichen ja eigentlich drei Jahre begleiten sollte, wenn sie in der Berufsausbildung sind, eine Kontinuität herstellen sollte, auch als positives Vorbild engagiert arbeiten soll – wie könnte das gehen, unter diesen Voraussetzungen?! Aber es ist ja überall dasselbe. Überall, wo das Soziale auf Profit ausgerichtet wird, da werden die Dinge scheitern, da werden sie keine Erfolge mehr haben. Ich frage Sie, wie soll man das in den Griff kriegen? Wir haben eine ungeheure Verwahrlosung und Verrohung, ein ungeheueres Maß an Nichtwissen, wie soll man das in den Griff kriegen? Ich sage immer: Geld ! Geld ! Geld ! Ihr könnt die Probleme nicht lösen mit Druck, das geht nicht.
    Wir kriegen ja den unteren Bodensatz – ich sage das einfach mal so brutal – von Jugendlichen. Jedes Jahr gehen 80000 bis 100000 Jugendliche ohne Schulabschluß von den allgemeinbildenden Schulen ab. Und ich frage mich wirklich: Wenn solche Jugendliche zu mir kommen, wo waren die in den vergangenen zehn Jahren? Aber ich kann ja dem einzelnen Jugendlichen keinen Vorwurf machen. Sie haben in viel zu großen Klassen herumgesessen, haben keinerlei individuelle Förderung erfahren. Das geht einfach nicht an deutschen Schulen, das gibt es nicht! Es gibt keine Binnendifferenzierung an deutschen Schulen. Viele Schüler haben eines Tages den Anschluß, die Lust am Lernen verloren und nie mehr zugehört. Das ist logischerweise, wenn sie dann als junge Erwachsene quasi vor mir sitzen, oft ein bißchen schwierig.«
    Wir bitten sie, uns ihre Schule und ihren Unterricht etwas genauer zu schildern. »Ja also, das sind richtige Industriebauten in Neukölln – Gewerberäume gibt es ja genug in Berlin –, lange Gänge, duster, wenig Licht. Eine frühere Fabrik eben. Wir haben Theorieräume, und wir haben Werkstätten. Und wenn ich morgens reinkomme in ein Klassenzimmer, dann sitzen sie da, Kopf auf dem Tisch oder so, Jacken liegen rum, Essen auf dem Tisch, alle sind unwillig bis dort hinaus. Dann sage ich erst mal: Radio aus, Ohrhörer raus, Tasche vom Tisch, Essen vom Tisch, Jacken aufgehängt und natürlich Handys abgestellt, sonst werden sie eingezogen. Das machen sie dann brummend, es findet auch so eine Art Selbstkontrolle statt: Nu laß mal, das nervt! Und ich frage dann als nächstes, wie geht’s, ob es irgendwelche Probleme gibt, dann fangen wir an.
    Wir haben Unterrichtsblöcke. Theorieunterricht 90 Minuten. Nach zwanzig Minuten können sie sich schon nicht mehr konzentrieren. Es sind auch stark lernbehinderte Jugendliche dabei, die eigentlich schon einen Rehastatus hätten. Aber, und das ist interessant, alle werden im Laufe der Jahre immer leistungsfähiger, geistig und körperlich. Die Gruppe ist ziemlich homogen in der Regel in ihrem niedrigen Niveau. Man muß den Unterricht also ein bißchen ›sesamstraßenartig‹ machen, damit sie nicht zurückschaudern. Wenn ich einen Hauptschulabschluß mache, dann sitzen da Jungs und Mädels, zwischen siebzehn und achtzehn Jahren meist, sechzehn bis zwanzig Stück. Mit und ohne Migrationshintergrund, und die Deutschstämmigen sind bei uns übrigens in der Überzahl. Das überrascht manche Leute, die denken, es ist vor allem ein ethnisches Problem.

Weitere Kostenlose Bücher