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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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Familienzusammenführung nur noch bis zum sechzehnten Lebensjahr nach Deutschland nachgeholt werden. Die lebten bei ihren Großeltern oder Tanten, und die Eltern hatten damals ja meist noch vor, irgendwann zurückzugehen. Jedenfalls mußten sie ihre Kinder vor dem sechzehnten Lebensjahr von heute auf morgen holen. Und die kamen natürlich ohne Deutschkenntnisse, ohne Berufsausbildung, wurden mitten aus ihrem vertrauten Leben herausgerissen. Für Mädchen gab’s damals in der Türkei nur eine fünfjährige Schulpflicht, für Jungs etwas länger. Und die lernten nun bei uns – damals waren es nur zwölf Monate, heute sind es drei Jahre –, sich hier zurechtzufinden. Sie lernten Deutsch, wurden durch die Werkstätten geschleust, alle vierzehn Tage durften wir Exkursionen machen, ins Museum, zur Verbraucherzentrale, zu Pro Familia u. ä. Sie haben sehr gut und schnell gelernt.
    Religion spielte damals überhaupt keine öffentliche Rolle. Nur zum Ramadan. Die Mädchen hatten keine Kopftücher auf, allenfalls mal so ein anatolisches, bäuerlich gebundenes. Sie waren sehr offen. Aufklärung war für die Mädchen sehr wichtig. Die Eltern witterten natürlich überall Gefahr für ihre Töchter. Ich hatte immer das Gefühl, die Mädchen haben nichts zu verlieren, außer ihren Ketten. Ich habe versucht, viele Verbote zu umgehen. Sie sagten: ›Hodscha‹ – das ist eine höfliche Anrede für Lehrer –, ›wir wollen auch schwimmen lernen!‹ Sie besorgten sich heimlich Bikinis und versteckten sie im Spind. Beim Üben hätten sie mich fast unter Wasser gerissen. Aber sie haben auch das Schwimmen schnell gelernt. Sie haben alle stolz ihre Freischwimmerprüfung abgelegt. Mit den Jungs kam ich nicht so gut klar. Sie hatten Probleme damit, daß eine Frau ihnen was zu sagen hat. Das mußte ich damals erst lernen, daß man ihnen gegenüber seine soziale Stellung betonen muß, sich aufbauen muß und klarmachen: ICH bin der Lehrer, ICH habe studiert. Und was bist DU? Man muß die Hierarchie herstellen, auf die Rangordnung pochen, dann hören sie. Mir fiel das schwer, aber unser türkischer Sozialarbeiter sagte, es geht nicht anders.
    Dennoch war vieles einfacher als heute. Auch ökonomisch. Damals lebten wir noch gut, wie die Made im Speck. Wir bekamen noch sehr viel Geld von den Arbeitsämtern. Und wir waren noch nicht gezwungen – also WIR, das ist jetzt immer der Träger –, solche Dumpingpreise zu machen wie heute. Damals gab es noch keine Ausschreibungspraxis. Heute werden ja alle diese Maßnahmen ausgeschrieben, einmal im Jahr, vom Arbeitsamt bzw. ›Job-Center‹, das sie ja finanziert. Also, die werden ausgeschrieben wie der Bau eines Autobahnabschnitts. Sie geben eine Leistungsbeschreibung raus von dreißig, vierzig Seiten, darauf dürfen wir dann mit achtzig, hundert Seiten antworten, ein Konzept, ein Angebot machen und einen Preis nennen. Und das wird dann verglichen mit dem der anderen Träger, besonders natürlich der Preis. Solche Träger sind ja wie Pilze aus dem Boden geschossen. Das war eben früher nicht so. Und durch diese unheilvolle Ausschreibungspraxis fing dann dieses ›Rattenrennen‹ um die Preise erst richtig an.
    Das Schreckliche ist – und auch das Verwerfliche –, das muß ich einfach sagen: Da wird enorm viel Geld verschleudert. Die Arbeitsämter müssen natürlich schaun, wo ist jetzt noch Bedarf, in welchem Beruf? Aber das müßte ja alles langfristig passieren. Jetzt hat man als Träger z. B. in eine Tischlerwerkstatt viel Geld investiert, für die außerbetriebliche Ausbildung der Jugendlichen, so was kostet leicht 100000 Euro und mehr. Und nach drei Jahren stellt das Arbeitsamt fest und beschließt: Tischler werden nicht mehr gebraucht! Jetzt ist da aber die Werkstatt, es existieren Tischlermeister, denn es müssen natürlich Meister sein für die Ausbildung; wir haben Sozialarbeiter vorgehalten und Stützlehrer, wie mich. Also, teures Personal auch noch. Und plötzlich wird die Maßnahme nicht mehr ausgeschrieben. Wir müssen die Werkstatt schließen, weil plötzlich, aus oft unerforschlichen Gründen, nun Floristinnen ausgebildet werden sollen oder Kosmetikerinnen. Der Tischlermeister muß gehen. Wenn das ältere Kollegen sind, müssen die Kündigungsfristen berücksichtigt werden – ich bin im Betriebsrat seit zehn Jahren, ich weiß also, wovon ich spreche. Mal heißt es, wir müssen sonderpädagogisch geschultes Personal einstellen – also teure Lehrkräfte mit

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