Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
von Druckerzeugnissen, Zigaretten, Süßigkeiten, Bier- und Limonadenflaschen. Frau Reinke ließ uns ein wenig widerstrebend in ihr Allerheiligstes ein. Es fanden sich sogar zwei Sitzgelegenheiten in der Enge. Sie nahm routiniert Platz auf ihrem mit Kissen und einem weißen Lammfell bedeckten Stuhl. Streng sagt sie, wir sollen uns Kaffee nehmen und Kekse. Dann ist sie bereit, zu erzählen:
»Den gab’s hier gar nicht, den Kiosk. Den habe ich erst aufgebaut, nach langem Kampf mit dem Amt. Der kostete mich Unsummen, und ich hatte nicht einen Pfennig, den mußte ich abzahlen, abzahlen, abzahlen! Morgens um viere aufgemacht, offen bis in die Nacht. Ich muß Miete zahlen nach Umsatz – der wird immer weniger – und Grundsteuer auch noch. Hab’ ich nie verstanden. Das ist doch nicht mein Grund und Boden! Zwanzig Jahre bin ich jetzt hier in diesem Kiosk, am 9. Dezember. Insgesamt stehe ich mehr als 56 Jahre in einem Kiosk und verkaufe, aber jetzt geht’s nicht mehr. Sie sehn ja, mein Bein ist ein großes Handicap. Ich habe ja ein offenes Bein. Aber das ist eine andre Geschichte. Irgendwann ist Schluß!« Ein Kunde wünscht zwei Päckchen Zigaretten und sagt im Weggehen: »Nee, also da kommen einfach keene Weihnachtsjefühle uff bei mir, wenn ick keene Winterreifen druff habe. Tschüs!, Frau Reinke.« Sie fährt fort: »Ich war immer gern hier am Marktplatz. Der hat mich all die Jahre erinnert an unseren damaligen Hof. Der war auch gepflastert. Bei uns standen oft die Kühe und Pferde im Hof; ich habe Schularbeiten gemacht, und sie haben den wilden Wein abgefressen an der Veranda, wenn keiner aufgepaßt hat. 1945 wurden wir vertrieben von den Polen.« Sie ignoriert das Klingeln des Telefons und sagt nebenbei: »Das ist nur er . – Na, also im Herbst wurden immer Gänse gerupft, unsre Knechte kamen heraus mit den ganzen Federn auf dem Kopf, wir Kinder haben gelacht. Der Hund hieß Hektor. Wie ich vier war, kam meine Schwester Helga, da war ich eifersüchtig. Mein Vater war stellvertretender Bürgermeister, wenn er wegfuhr, sagte er immer zu mir: ›Rosa Schulze, kommst du mit?!‹ Wie er gestorben ist, 1940, einen Tag vor Heiligabend, da bin ich fast mitgestorben. Er war über die ganzen Weihnachtstage in der Stube aufgebahrt. Meine Mutter sagte: ›Gib ihm mal einen Kuß, er kommt nicht wieder.‹ Ich war sechs. Er war 26 Jahre älter als meine Mutter. Er hat sich immer so aufgeregt über die Zustände.
Wir hatten eine große Landwirtschaft, da waren im Krieg Leute, Franzosen, Polen, Russen, die für uns gearbeitet haben.« »Zwangsarbeiter?« frage ich. »Ja. Die waren im Gefangenenlager beim großen Markt eingesperrt und kriegten da kaum zu essen, hatten nichts auf den Knochen und sollten arbeiten! Mein Vater hat gesagt: ›Halt! So geht das nicht.‹ Dann hat er immer Essen runtergebracht und gesagt: ›So, hier kommen Kartoffeln, hier kommen Rüben, Äpfel und auch mal Fleisch.‹ Mein Vater war kein Nazi. Man hat es ihm übelgenommen, und er wurde eingesperrt. Es hieß, er hätte kollaboriert mit dem Feind, mit den Leuten. Und dann war er also tot. Es war furchtbar. ’43 hat meine Mutter wieder geheiratet, der ging dann in den Krieg. Ich habe zu meiner Mutter gesagt: Ich helfe dir immer, ich heirate nie! Bei der Vertreibung war ich elf, hab’ da einen Handwagen geklaut, Kartoffeln reingemacht, ein Kochgeschirr genommen und gesagt: So, damit werden wir schon ein Ende weiterkommen. Ich hatte immer so eine Beschützertour drauf. Wir wurden nach Berlin evakuiert, fanden eine Unterkunft in der Machnower Straße. Opa, meine Mutter, meine Schwester Helga und ich. Oma ist ’45 verhungert, wir hatten ja nichts. Uns wollte ja keiner haben.« Ein Junge will ein Center-Shock und zwei Schlangen. R.: »Dich kenn ich doch, du kommst gar nicht mehr so oft vorbei wie früher?!« J.: »Fünfte Klasse, hat man viel um die Ohren. Tschüs.«
Frau Reinke schüttelt den Kopf, sie ist klein von Statur, läßt sich auf ihr Fell sinken und streicht über ihr rechtes Bein. Sie trägt Hosen, das Hosenbein ist vollkommen ausgefüllt. »Heute habe ich die Ärztin kommen lassen für eine Spritze, damit ich schmerzfrei bin, scheint aber nicht ganz zu klappen. Wollen sie noch einen Kaffee? Nehmen Sie nur, ist ja alles da! Wo war ich stehengeblieben? Ich will ja der Reihe nach. Also, 1949, da hatte der Großvater schon einen Kiosk an der Wiesenbaude. Ich war fertig mit der Schule, und der Opa sagte zu seiner Tochter, die meine Mutter
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