Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
Mark die Woche. Nach einem viertel Jahr habe ich gesagt, das ist ja furchtbar, und den Opa gedrängelt, wieder einen Kiosk zu kaufen.« R.: »Guten Tag, was soll’s denn sein?« K.: »Einmal Puffreis und zwei Schlangen. Danke.« Frau Reinke legt die Münzen in die Kasse. »Dann hat er den Kiosk in der Wilmerdorfer gekauft, er wurde aber mit den Umsatzzahlen betrogen. Wir standen da rum für einen Hungerlohn, das Geschäft hat sich woanders konzentriert, in der Markthalle, da war auch ein Zeitungsstand.« Das Telefon klingelt, Frau Reinke ignoriert es. »Opa hat dann jemand gefunden, der hat uns den wieder abgekauft. Und dann hatten wir endlich mal Glück. Einer gab uns die Adresse, den seh’ ich wie heute – wunderschöne blaue Augen hatte der, als wenn man in einen See geguckt hätte. Wir sind hingegangen zu dem Kiosk, da stand eine Frau Krauskopf drin, die konnte kaum Luft holen, so viel hatte die zu tun.
Das war hier vorn, Augusta-/Ecke Holbeinstraße. Direkt neben der Litfaßsäule hat der Kiosk gestanden. Opa hat gleich gekauft, und wir sind am 1. Januar 1958 rein. Der war klein. So ein Kasten, aber der Umsatz war doll! Allein an Romanheftchen habe ich zweihundert am Tag verkauft, so viele wie heute nicht mal im ganzen Jahr. Das war noch vor der Mauer. Da kamen sie aus dem Osten, haben hier dreißig, vierzig Romane gekauft und drüben weiterverkauft. Aber im Kiosk war kein Elektrisch. Da hat der Opa sich umgehorcht und ist zu Stücklen gegangen. (Heinz Stücklen, SPD, Bezirksbürgermeister. Anm. G. G.) Der hatte da direkt sein Haus und hat uns erlaubt, den Kiosk in seinen Vorgarten zu stellen. 1962 sind wir da rein, und der Tischler in der Dürerstraße hat den Kiosk ein bißchen verlängert. Da hatten wir dann Licht, es war ein kleiner Ofen drin, wo wir das Verpackungsmaterial eingeheizt haben, einen Hocker hatten wir, alles. Wir haben Zeitungen, Zigaretten und Süßwaren verkauft, keine Getränke. Damals habe ich fünfhundert BZ verkauft am Tag, heute nicht mal dreißig. Achtzig Bild , dann die Nachtdepesche und der Abend , das waren noch mal achtzig. Und es gab noch all die anderen. Telegraph , Der Tag , erster Kurier, zweiter Kurier – den zweiten gab’s am Nachmittag. Damals wurde ja auch noch zweimal am Tag Post zugestellt für den Bürger, alles vorbei! Also Zeitungen gingen weg wie nichts.
Nur einmal, 1968 war das, um Ostern, da war der Studenten-aufstand, da wurden die ganzen Autos angesteckt von Springer, ein heilloses Durcheinander war das, da gab es keine Bildzeitung und keine Morgenpost . Hier war ein Hotel, kam 70 Mark die Nacht; da waren viele Journalisten, die kamen an den Kiosk und haben gesagt: Das wurde inszeniert! Von Springer aus, aber das kann man ja nicht einfach so sagen, die bekamen Geld dafür, daß sie randaliert haben. Ob’s stimmt, das weiß ich nicht. (Die Rede ist von den Anti-Springer-Aktionen nach dem Attentat auf Rudi Dutschke am 11. April 1968. Studenten und Schüler verhinderten durch Blockaden und Sitzstreiks in der gesamten BRD die Auslieferung von Bild und BamS , Anm. G. G.) Ja, und 1969 habe ich dann meinen Mann kennengelernt. Geheiratet habe ich 1971. Mit 37. So spät, ja. Keine Zeit gehabt und keine Lust. Opa war wunderbar, er hat gekocht zu Hause. Gut gekocht. Und er war sehr für Neuerungen. Auch mit diesem Schnellkochtopf in den 60ern, den hat er gleich gekauft für 160 Mark. Pellkartoffeln in fünf Minuten! Ich hatte doch den Himmel auf Erden.« Ein älterer Mann wünscht zweimal Zigaretten und ein Bier. R.: »Ist teurer geworden, wissen Sie, ja?« M.: »Hauptsache, der Staat kommt uff die Beene! Is doch so. Dankeschön.« Frau Reinke sagt: »So isses. Also zurück … Ich habe 22 Jahre mit Opa zusammengelebt, war wunderschön. 1970 ist er gestorben. Ich bin mit ihm zur Haltestelle, hab’ ihn noch so gestützt, da kam der Bus, hier bei Hillmann an der Ecke. Ich habe ihn hochgeschoben, und da ist er zurückgesunken und war tot. Die Feuerwehr hat ihn hier ins Klinikum Steglitz gebracht, und als ich dann hinkam, da lag er in so ’nem blauen Sack. Ich habe die verflucht! Der Mann hat so viel für Steglitz getan, hat seine Steuern bezahlt, mit dem Fahrrad ist er bis in die Schloßstraße gefahren zum Finanzamt. Und das ist das Ende? In eine blaue Tüte gesteckt, kurz vor dem 81. Geburtstag, der Vater meiner Mutter, Leonhard von Wicki!
1971 habe ich dann geheiratet, er war 26 Jahre älter und Gärtner im Botanischen Garten. ’71 mußte ich auch
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