Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
innovative Schulen, also, wir fallen schon auf. Aber es gibt natürlich immer noch kritische Nachfragen von Eltern, ihre Hauptsorge ist: Lernen die hier auch genug? Sie haben es eben noch anders erlebt, für sie ist Schule primär ein Ort der Wissensvermittlung. Aber in Zeiten, wo jeder sich Informationen zu allen Wissensbereichen sekundenschnell aus dem Internet holen kann, hat die Schule nicht mehr diese Aufgaben wie vor 100 Jahren. Sie muß das Wissen innerhalb einer Gemeinschaft nutzbar machen, die Jugendlichen müssen lernen, wie man sich austauscht, gemeinsam Projekte entwickelt statt gegeneinander zu arbeiten, wie man Verantwortung übernimmt und Probleme originell und auf verschiedene Weise löst. Also 45 Minuten Geschichte, dann 45 Minuten Mathe usw., das halte ich für eine Vergeudung von Potential, das ist sträflich. Unsere Schüler erwerben nicht nur das Wissen, sondern auch die Kompetenz, etwas damit anzufangen. Trotzdem schicken manche Eltern ihre Kinder nach der sechsten Klasse ins Gymnasium, weil sie den sicheren Weg zum Abitur gehen wollen. Aber im allgemeinen ist das Verhältnis zwischen den Eltern und uns vertrauensvoll und intensiv. Wir haben ja eine ganz gemischte Elternschaft, es ist eher so ein, na sagen wir mal, bildungsnahes Publikum, es sind schon Leute, die sich viele und gute Gedanken über die Erziehung der Kinder machen, die auch oft aktiv mitarbeiten. Also, unsere Eltern sind in diesem Sinne Avantgarde, aber keine Geldelite, es gibt hier auch Eltern, die arbeitslos sind, die Sozialhilfeempfänger sind. Unser Prinzip ist ja Heterogenität. Aber es gibt keine Ausländer. Wer zieht denn schon nach Potsdam, wenn Berlin vor der Tür ist – um sich hier ›aufschlagen‹ zu lassen, vielleicht?!
Also, wir legen sehr großen Wert darauf, daß bestimmte Tendenzen, die an vielen anderen Schulen große Probleme verursachen, besonders Gewalt, bei uns sofort ausgegrenzt werden. Und sie haben es ja vorhin auch sehen können, wir haben z. B. keine Schüler die gepierct sind oder tätowiert. Unsere Kinder gehen aufrecht, weil sie sich frei fühlen und wir haben fast keine adipösen Kinder, weil sie sich auch viel mehr bewegen. Also, unsere Kinder sehen auch anders aus als an den Gesamtschulen üblicherweise. Das Äußerste ist, wir haben drei bis vier Schüler, die einen Ohrring tragen. Manchmal kommen ja hier Studenten und auch Lehrer her, die sind vernietet und beringt hier und hier und hier. Eine kam mal von der Uni, voller Ringe, sie wollte hier ein Praktikum machen. Ich sagte ganz rigoros: Es tut mir leid, ich muß das ablehnen, ich möchte meine Kinder an dieser Schule nicht mit ihrem Problem konfrontieren. Sie nannte mich intolerant, aber auf diesen verwaschenen Toleranzbegriff wird in solchen Momenten ja immer zurückgegriffen, auf dieses ›Alles ist möglich‹. Also mit diesem ständigen Bestreben, ein richtiges Verhältnis zwischen Freiheiten und Struktur herzustellen, damit ist das gesamte Lehrerkollegium beschäftigt, und da herrscht auch weitgehend Einigkeit.
Den Lehrern wird hier ja eine Menge an Mehrarbeit abverlangt, nicht nur durch die vielen pädagogischen Gespräche mit Kollegen, Schülern und Eltern, Konferenzen usw. Sie müssen zusätzlich die sehr umfangreichen und sehr genauen Lernentwicklungsberichte über jedes Kind schreiben – das sind sozusagen unsere Zeugnisse, die, als Ergänzung auch zu unseren selbstentwickelten Pensen-Büchern, sachlich und differenziert Auskunft geben, damit sich auch die Eltern über den Leistungsstand ihrer Kinder informieren können. Trotzdem genießen wohl fast alle die Befreiung aus den alten Verhältnissen. Sie haben hier als Lehrer eine demokratische Ebene erreicht. Die ist schon beachtlich. Denn sie müssen sich ja auch in dieser veränderten Rolle immer sicherer fühlen. Sie stehen nicht mehr frontal vor der Klasse, sondern müssen sich frei im Raum bewegen, sie werden von vorn, von hinten, von allen Seiten und aus unmittelbarer Nähe gesehen. Sie sitzen auf der Erde und machen eine Präsentation – Präsentation, das bedeutet, Einführung in ein Thema. Und da gibt es auch mal Lehrer, die sagen: ›Ich gehe nicht auf die Erde!‹ Das gibt es auch, diese Angst, sich lächerlich zu machen. Also Lernen ist wild und chaotisch, auch für die Lehrer. Mal zurück, dann wieder vor, deshalb ja auch die altersgemischten Lerngruppen. Das ist eben auch Montessori-Pädagogik: Jeden da individuell abholen, wo er grade ist.
So, jetzt zeige
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