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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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ist: Kannst mir ja mal die Ingrid schicken. Für die Handelsschule war ja kein Geld da. Ich hab’ es dann versucht und bin am 11. Januar 1950, zwei Monate vor meinem sechzehnten Geburtstag, fest mit eingestiegen. Menschenscheu war ich, aber es ging mit der Zeit.« Sie ignoriert das Telefon und bedient einen Kunden, ruft: »Tschüs!, Günther!«, und fährt fort: »Der Kiosk war an der großen Hauptpost, Hindenburgdamm, Ecke Königsberger Straße. Damals war dort noch was los! Opa hat um sechs aufgemacht, und ich kam dann um zwölf bis abends um zehn zur Ablösung. Da hatten wir viele Süßigkeiten und Erfrischungen, haben auch viel Eis verkauft. Opa hat dafür so ’ne Waffel selbst gemacht, das Eis kam auf zehn Pfennig. Und Bockwurst gab’s. Da war direkt die Haltestelle. Man hat die Wurst schon auf den Pappteller gemacht, da ruft so ein Kunde: ›Nein, ich kann nicht, mein Bus kommt!‹ Also, da mußte man aufpassen. Am besten gingen die ›Plombenzieher‹, die Sahnekaramellen. Auch Vivil und die kleinen Lutscher für zehn Pfennig, Nappo – gibt’s auch heute noch – kam drei Pfennig, Ahoi-Brause kam, glaub ich, fünf Pfennig. Ja, da gab’s auch noch das Pfefferminz in Platten, weiß und rosa, das war sehr gut, auch die Kokosflocken waren rosa und weiß. Hab’ ich viel verkauft.«
    Eine BZ wird verlangt. Frau Reinke erhebt sich jedesmal derart schnell und leicht, es ist erstaunlich. »Ja, und die Bonbons waren in bauchigen Gläsern, so gekippt. Mit Schäufelchen habe ich die in spitze Tüten getan und gewogen, ein viertel Pfund für 45 Pfennig. Schokolade ging immer besonders gut am Monatsende. Da gab’s die Rentenauszahlung auf der Post, die Rentner haben angestanden in langen Schlangen. Danach kamen sie an den Kiosk, kauften Mokka-Sahne oder die mit den Kühen da, ›Im Dorf‹ stand drunter, die kam 1,20 Mark. Da waren richtig Kühe auf der Weide abgebildet …« Kunde: »Guten Tag, einmal West, und noch die BZ bitte mit zu. Dankeschön, bis morgen.« – »Ich hab’ mich so durchgebissen. Die Rentner haben mich immer geneckt. Meine Mutter hatte mir alles in Rot gestrickt, rotes Käppi, roten Pullover und Schal. Der Kiosk an der Wiesenbaude ging von ’49 bis ’52. Dann hat Opa sich von einem Kriegskameraden beschwatzen lassen, hat verkauft und ein kleines Ladengeschäft in Neukölln gekauft. Zwei Zimmer mit Küche waren dabei, dort haben wir dann zusammen gewohnt, 59 Mark Miete kam alles, aber es gab keinen Umsatz. ’57 haben wir den verkaufen können, den Laden, und sind von da aus für eine Saison nach Wannsee raus, Heckeshorn, das hatte Opa in der Zeitung gelesen. Da war Werner, der hatte auch noch einen Bootsverleih. Wegen ansteckender Tuberkulose durfte er den Kiosk nicht weitermachen, und Opa hat den also gepachtet, gut ein Jahr, für 1500 Mark.«
    Ein Kind steht schon eine Weile und schabt mit dem Geldstück auf der Blechtheke. R.: »Nun?« K.: »Ähhm … Eine Schlange, und von den süßen … ähm.« R.: »Auwarte! Bist du ein Politiker, sagst immer ähm? Weißte nicht, was du willst?« K.: »Doch! Eine Schlange und von den süßen Bonbons zehn Stück.« »Na siehste!« Sie angelt mit einer Zange die lange rotgrüne Fruchtgummischlange aus einem Plastikbehälter und läßt sie in eine Papiertüte gleiten. »90 Cent. Wiedersehen.« Sie seufzt. »In Wannsee hatten wir auch Tische. Den Kartoffelsalat und die Bouletten hat Opa selbst gemacht und natürlich den Kuchen. Opa war ja Bäckermeister von Beruf. Ich fand es dort draußen schön. ’Ne kleine Katze war mir zugelaufen, die Angler haben immer Fisch mitgebracht. Von Pfingsten bis zu Opas Geburtstag im November haben wir draußen geschlafen. Hatten uns jeder ein Zelt gekauft; so schliefen wir, denn wir hatten ja gar keine Wohnung mehr, nachdem der Laden verkauft war. Dann wurde es aber zu kalt. Ende ’57 fand Opa eine Wohnung in der Fuggerstraße 22, Schöneberg. Der Hausherr fragte nach Referenzen. Der Opa sagte: ›Was soll ich mit Referenzen? Nehmen Sie die Miete für ein Jahr, dann ist es gut!‹ Das war auch ein Ladengeschäft.« Das Telefon schrillt. »Das war eine ehemalige Plätterei, zwei Zimmer und der Laden, ein schöner Ofen drin. Wir haben die Scheibe von innen weiß gemacht und uns eingerichtet. 130 Mark Miete kam die Wohnung. Opa hatte eine kleine Rente, also habe ich Arbeit angenommen in einem U-Bahn-Kiosk. Es war Station Hallesches Tor, mächtig zugig war’s. Morgens von sechs bis vierzehn Uhr, für vierzig

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