Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
mein besonderer Hochschullehrer war Rudolf zur Lippe, mit dem bin ich heute noch in Kontakt. Ich habe da auch viel gemacht, politisch und kulturell, war auch im Frauenzentrum in Oldenburg dann. Aber kaum war ich als Lehrerin an der Schule, konnte ich alles vergessen, was ich gelernt hatte. Tasche auf den Tisch, runterbeten, das war es nicht für mich. Ich war dann lange in Berlin-Zehlendorf, und man sagte mir immer nur: ›Was haben Sie denn, Frau Kegler, warum so unzufrieden, die Schule läuft doch?!‹ Aber das kann doch nicht das Ziel sein, daß die Schule läuft. Ich bin krank geworden plötzlich. Die Haare sind mir ausgefallen. Ich hatte Schuppenflechte und Bronchitis, Lungenentzündung – alles in mir hat sich gewehrt gegen diese Verödung, und da habe ich mich nach acht Jahren beurlauben lassen für ein Jahr, ich bin ja Beamtin. Ich hatte Familie, hatte inzwischen drei Kinder.
Und in diesem Jahr habe ich dann durch einen Workshop den ich besucht habe, die Montessori-Pädagogik kennengelernt. Ich wußte sofort, das ist es! Und dann habe ich die Ausbildung gemacht, und es war grade zur Zeit der Wende. Im Osten gab’s ein Vakuum, im Westen ein betoniertes Schulsystem. Ich habe hier in Potsdam einfach das Schulamt angerufen und hatte Glück. Die Schulrätin bot mir an, einen Vortrag vor allen Schulleitern Potsdams zu halten, die sollten dann entscheiden, ob sie das wollen oder nicht. Es waren sechzig; ich habe ihnen von der Montessori-Pädagogik erzählt, mit Herzklopfen, danach haben sechs bis sieben Schulen ihr Interesse bekundet. Und so kam ich an diese Schule hier, hatte zuerst nur eine Klasse; mit den Eltern zusammen habe ich das Klassenzimmer renoviert und eingerichtet, und das war eine Provokation, daß bei mir alles anders war. Ich habe dann Kurse angeboten für die Kollegen. Ein paar sind sofort auf meine Seite gekommen, die sind auch heute noch da. Und nach zwei Jahren wurde ich Schulleiterin. Der Schulleiter alten Modells war der Sache nicht mehr gewachsen. Ich habe meine Karten auf den Tisch gelegt und gesagt, wenn ich hier Schulleiterin werde, dann will ich eine Montessori-Schule aus dieser Schule machen. Und das ist gelungen. Und es wird sich weiterentwickeln, hier wird es keine Stagnation geben, wir haben noch viel vor.«
2 Sie kooperierte eine Weile mit den Faschisten, ohne selbst Faschistin zu sein.
3 Heute gibt es Eier in Senfsoße und Hirsebrei mit Zucker und Zimt.
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DER KIOSK SÜSSWAREN, TABAKWAREN, ZEITUNGEN, GETRÄNKE
KIOSKFRAU
Ingrid Reinke, Kioskbetreiberin am Ludwig-Beck-Platz in Berlin-Lichterfelde West. 1940 Einschulung in die Volksschule Bernstein/Kreis Soldin, Westpommern, 1945 Vertreibung u. Flucht nach Berlin, 1946–48 Beendigung der Volksschule daselbst. Ab 1949/50 Arbeit im Kiosk d. Großvaters. Ingrid Reinke wurde 1934 auf dem elterlichen Gutshof Elisenhöhe bei Bernstein geboren, ihr Vater war gelernter Landwirt u. Jäger, ihre Mutter war f. d. Hauswirtschaft zuständig. I. R. ist verwitwet und hat zwei Töchter.
Der Kiosk ist ein magischer Ort. Ausgewandert aus den feudalen Parkanlagen des 18. Jahrhunderts, wo er den Part des orientalischen Lustpavillons zu spielen hatte, gelangte er Ende des 19. Jahrhunderts als Zeitungskiosk auf die Pariser Boulevards (daher »Boulevard-Zeitung«) und dann auch zu uns, wobei der türkische Name KÖŞK zu Kiosk eingedeutscht und das Sortiment erweitert wurde. Lustpavillon ist er immer noch. In ihm warten immerwährend Süßigkeiten auf die Kinder, Zeitung und Zigaretten und Alkohol auf die Erwachsenen. Sein Innenleben aber bleibt weitgehend unsichtbar. Verkauft wird durch die Luke hindurch. Von der Kioskfrau kommen nur Gesicht und Hände zum Vorschein, ein Lächeln vielleicht, ein Gruß, eine treffende Bemerkung, der Rest bleibt verborgen, und der Kunde geht sehr zufrieden seiner Wege. Das ist für uns der Kiosk.
Für Frau Reinke, Kioskfrau aus Fleisch und Blut, die ihr ganzes Leben lang innen saß, ist der Kiosk ihre Rettungskapsel, ihre Schutz- und Trutzburg, mit der sie sich die Welt draußen auf Distanz hält. Er ist das Metronom für ihren Lebensrhythmus.
Ihr Kiosk steht auf dem Ludwig-Beck-Platz in Lichterfelde West, er ist mehreckig, hellgrün, aus Metall und pavillonartig zusammengebaut. In den Fenstern hängen Zeitschriften und Werbung. Innen gibt es auf kleinstem Raum Heizung und WC, Waschbecken, Spülmaschine, Kühlschränke für Eis und Getränke und ein ausgefeiltes Stell- und Regalsystem für die große Menge
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