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Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)

Titel: Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriele Goettle
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umziehen mit dem Kiosk, ein Haus weiter nur. Da wohnte der Lüder. (Wolfgang Lüder, Rechtsanwalt, 75–81, FDP-Chef, Wirtschaftssenator und Bürgermeister in Berlin, G. G.) Der hat mich immer beschützt. Mein Mann hat den ganzen Kiosk selber gebaut, hat mit so einem Material aus Kühlschränken alles isoliert und das Holz noch mal verschalt, drinnen und draußen. Im Fußboden war Holzwolle drunter, nicht so ein kalter Zement wie hier. Der Kiosk war zweimal so groß wie dieser, hinten in den Gang konnte ich dreißig Kästen Bier reinstellen. Mein Mann hatte alles auf einer Zigarettenschachtel aufgezeichnet und es dann gebaut. So war der, der Josef Reinke. Er starb 1975. Wir sind noch im Kiosk gewesen vorher, dann nach Hause gefahren. Er hat noch seine Katzen da, seine Hühner und Enten und alles gefüttert, und ist dann hoch. Wie ich raufkomme, liegt er schon da. Tot. Die Franziska, die Tochter, war vier Jahre, die andere hatte ich noch im Bauch. Und dann einfach so zur Tagesordnung übergehen, das war nicht schön.
    Nee, das war ein schlimmes Jahr für mich … Und wie ich wieder auf den Beinen war und meine Mutter sich auch um die Kleine gekümmert hat, da gab’s für mich nur noch Arbeit, Arbeit, Arbeit! Fünf Jahre habe ich im Kiosk auf der Erde geschlafen mit der Luftmatratze. Ich mußte ja viel bezahlen, die Wohnung von Mutter, für jedes Kind 400 Mark, Lebensmittel und alles. Da habe ich manchmal nachts um zwei aufgemacht, so ’ne Art 24-Stunden-Bereitschaftsdienst.« Das Telefon läutet nicht enden wollend. Sie steht auf und nimmt resigniert ab. R.: »Na, was gibt’s Heinz? Geht jetzt nicht. Ich habe dir ja gesagt, daß ich hier heute ein Gespräch habe den Tag über, also, ’tschuldige bitte, bis später, ich hab’ Kunden!« Ein Uhrenkatalog wird verlangt. Frau Reinke reicht ihn hinaus, legt den Schein in die Kasse und setzt sich. »Es ist so, 1975 ist mein Mann gestorben, und bis 1999 war ich alleine. Dann stand er mit einmal da, wie so ’n armer Sünder. Und Weihnachten war’s. Frag ich, na, was machen Sie denn nun, Herr L.? Sagt er, ich? Also ich bin alleine. Sag ich, ich auch. Wenn Sie wollen, ich mach’ ein bißchen Kartoffelsalat und Bouletten. Erst hat er mir viel geholfen. Bis 2003 ging das wunderbar. Seither sitzt er nur noch bei mir zu Hause und macht Theater jede Nacht bis zwei. Und andauernd ruft er hier an. Er ist schlicht und ergreifend ein Säufer! Ich habe ihn zweimal zum Entzug gebracht. Danach war’s besser. Vorübergehend. Jetzt ist er 57 und denkt, Muttern wird’s schon richten.« Sie lacht bitter und singt sehr schön: »… der Mann durchs Leben rollt mit der Zigarre Handelsgold«. Ein Kunde möchte eine BZ und ein Päckchen Zigaretten. R.: »Na, wie geht’s, länger nicht gesehen?« K.: »Bescheiden schön. Man wurschtelt sich so durch. Wiedersehen.« Frau Reinke sagt seufzend zu uns: »Die Zeiten sind schlecht und werden nicht besser. Ich war immer ein bißchen mitfühlend mit den Kunden. auch heute noch, wenn sie ankommen: ›Kein Geld.‹ Aber ich hab’ ja selber nichts. Bei dem Umsatz!« Telefon …
    »Jetzt wieder zurück. Fünf Jahre Luftmatratze, ich mußte ja ganz alleine weitermachen. Verdienen sie erst mal für zu Hause einen Tausender jeden Monat! Das war nicht leicht. Ich habe einen Schlüssel bekommen vom Klohäuschen da drüben, das ist heute zu. Heute hab’ ich ja zum Glück mein eigenes hier drin. Morgens konnte ich da rein, bevor aufgesperrt wurde für den Tag. Es war sogar beheizt. Da habe ich mich gewaschen und alles. Einmal in der Woche zum Frisör, und meine Mutter hat mir immer frische Sachen gebracht. So habe ich gelebt die ganzen Jahre. Und plötzlich, 1980, wurde das Haus verkauft. Ich war ja die ganze Zeit über geschützt durch den Lüder, aber wie der dann rausgegangen ist, war’s aus. 1980, am 5. Mai, bin ich umgefallen. Ich wußte das zwar schon vorher. Aber als ich das Kuvert aufgemacht habe und sehe: Kündigung, da ging’s mir wie so ein Feuer durch und durch. Die ganze rechte Seite wie gelähmt.
    Dann habe ich zu Hause gelegen für vierzehn Tage, mit vierzig Grad Fieber. Die Lieferanten haben die Zeitungen einfach in den Garten geschmissen, über den Zaun. Die wurden teils geklaut, teils hat es geregnet. Ich war ja nicht ansprechbar, und meine Mutter hatte keine Ahnung, wie und wo sie die abbestellen konnte. Da durfte ich dann tausende Mark zahlen für die Lieferungen.« Telefon … »Am 30. Mai war ich dann wieder einigermaßen

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