Der Augenblick: Reisen durch den unbekannten Alltag (German Edition)
ich Ihnen noch, was Montessori-Pädagogik ist. Es ist – die Dinge begreifen .« Sie steht auf und bringt ein Kästchen voller Bausteine. Sie baut, mit Hilfe eines Stützteils, das sie nach Vollendung herauszieht, zügig einen romanischen Gewölbebogen auf. Während sie den Schlußstein mit routinierter Geste einfügt, sagt sie: »Normalerweise bau ich es langsam auf und so, daß ich jeden einzelnen Stein hinlege. Ich hab’s jetzt grade mit den 14-Jährigen gemacht, sie waren begeistert. Man kann auch noch einen Eimer Wasser draufstellen und zeigen, wie sich die Steine unter der Last nur noch mehr gegenseitig stützen statt einzustürzen. Es gibt auch faszinierende Mathematikmaterialien, ich könnte Ihnen stundenlang davon erzählen. Das Entscheidende bei diesen Montessori-Materialien sind immer drei Prinzipien. Erstens: Es geht immer nur um eine Sache. Nicht alles auf einmal. Zweitens: Es geht um Chaos und Ordnung und Struktur, um die Verbindung miteinander. Drittens: Es geht um Fehlerkontrolle. Wenn man hier was falsch macht, funktioniert es nicht. Also, die Sache unterrichtet das Kind beim Ausprobieren und nicht der Lehrer. Das ist sozusagen der Kern der Pädagogik. Das ist Begreifen. Die Fehlerfreundlichkeit hat Montessori gut beschrieben. Man lernt eigentlich nur aus Fehlern. Also, Heiner Müller hat gesagt: ›Macht Fehler, und macht sie schneller! Woraus sonst wollt ihr denn lernen?‹ Das ist ein Lieblingssatz. Mein allerliebstes Lieblingsmaterial von Montessori ist aber das sogenannte schwarze Band. Ja, das sieht aus wie eine Stoffbahn beim Schneider, aufgewickelt auf einen Bambusstock. Diese fünfzig Meter schwarzen Stoff rolle ich langsam und in Phasen auf dem Flur aus. Ich erzähle dazu die Geschichte der Entstehung der Erde und des Lebens. Nach dreißig Metern, da kommt dann so allmählich das Leben im Wasser, der Stoff bleibt schwarz, der Stoff bleibt auch nach fünfzig Metern noch schwarz, denn die Geschichte der Menschheit, auf die ja alle warten, beginnt erst auf dem letzten Zentimeter. Und dieser letzte Zentimeter ist rot. Da habe ich Erwachsene schon weinen sehen, wenn der entrollt wird. Da erst tauchen wir auf. Alle wissen es, rein theoretisch, aber ich bekomme heute noch eine Gänsehaut, wenn ich das sehe: So viele Millionen Jahre ist die Erde alt, dann tauchen wir auf und schaffen es in kürzester Zeit, daß vielleicht mal alles den Bach runter geht.« Sie legt den Stoffballen zurück aufs Regal und sagt: »So, das ist es also im Prinzip das, was wir hier machen.«
Wir möchten nun auch noch ein wenig zur Biographie erfahren. Sie sagt: »Ach je!«, lacht amüsiert und sagt: »Das beginnt finster! Ich bin im Sauerland geboren. Mein Vater hat im Suff eine Frau totgefahren, er hat meine Mutter verprügelt vor meinen Augen, er war Alkoholiker. Und die schicksalshafte Wende kam sozusagen durch John F. Kennedy, der 1963 in Berlin sagte: ›Ich bin ein Berliner‹, denn in diesem Zusammenhang wurden damals Arbeitskräfte angeworben für Berlin. Das war ja ›Frontstadt‹. Meine Mutter war Kindergärtnerin. Und so sind wir – ich war sieben, mein Bruder war zwei – von einem Tag auf den anderen mit unseren Köfferchen von einem kleinen Dorf im Sauerland in die Großstadt Berlin gefahren. Anderer Dialekt, und ich hatte einen Seitenzopf! Alle haben gelacht. Wir wohnten in Kreuzberg, Hinterhof, am Mittag mußte man schon Licht anmachen. Ich war ein Schlüsselkind, mein Bruder war im Hort, und abends hat sich unsere Mutter dann allerdings sehr um uns gekümmert. Aber es war alles sehr schwierig. Meine Kindheit war irgendwie mit einem Schlag beendet, ich bekam diese ganze existientielle Krise unmittelbar zu spüren. Ich mußte viele Aufgaben übernehmen, habe meinen Bruder verdroschen, mich irgendwie durchgeschlagen in der Schule und Abitur gemacht. Die Schule war für mich eine einzige Qual. Und es war klar, ich wollte Lehrerin werden, unbedingt, schon seit der fünften Klasse. Aber nicht, um es besser zu machen, sondern weil ich in diese Machtposition wollte, weil ich meine Machtlosigkeit haßte! Durch eine Lehrerin kam ich dann an die Uni Oldenburg in diese Lehrerausbildung, wo von Anfang an Theorie und Praxis verzahnt wurden, ein Modellversuch. Für mich war das ein Erlebnis; zum ersten Mal in meinem Leben erfuhr ich, daß lernen Spaß machen kann, daß es nicht um Fragen der Macht geht. Da habe ich eigentlich meine Basis her. Dort bin ich sozusagen fürs normale Leben verdorben worden. Also,
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