Der Augenjäger / Psychothriller
hätte mich gar nicht fesseln müssen. Schon meine Stimme verriet, dass ich ihm kein ebenbürtiger Gegner mehr war.
»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Psychopathen reflektieren nicht über Schuld und Moral, so wie ich es ständig tue. Ich bin weder böse noch ein Produkt der Gesellschaft. Und ich bestrafe niemals einen Unschuldigen.«
»Ach ja? Und wieso bin ich jetzt Ihre Geisel?«
Suker seufzte, als hätte ich einen wunden Punkt angesprochen. »Das ist leider Pech. Ich hatte nie vor, Sie in die Behandlung mit einzubeziehen, das müssen Sie mir glauben. Sie haben mir nie etwas getan. Als Sie völlig unerwartet hier auftauchten, war ich gerade dabei, meine nächste Operation vorzubereiten. Zum Glück bemerkte ich Ihre Ankunft bereits in der Einfahrt und hatte somit genug Zeit, mich ein wenig zu tarnen, bevor ich Ihnen die Tür öffnete. Den ersten Impuls, einfach nicht aufzumachen, verwarf ich, da ja überall Licht brannte. Letztlich wollte ich Sie die ganze Zeit so schnell als möglich wieder loswerden.«
Unerwartet? Schnell wieder loswerden?
Das passte nicht zusammen, wenn Tamara mich hierhergelockt hatte.
Suker schnippte zweimal laut mit den Fingern, als er merkte, dass ich mit meinen Gedanken abdriftete.
»Ich hatte tatsächlich ein Taxi bestellt, Herr Zorbach. Ich hätte einen Schwächeanfall simuliert und wäre das Risiko eingegangen, Sie alleine fahren zu lassen, auch wenn das bedeutet hätte, erneut das Versteck wechseln zu müssen. Ich wollte keine Unbeteiligten mit reinziehen. Doch dann sehe ich während unserer Unterhaltung oben im Wohnzimmer aus dem Fenster, und mich trifft fast der Schlag. Ich hätte nie gedacht, dass eine Blinde es schafft, sich aus meinem Operationssaal zu befreien. Sie war angekettet, aber ganz offensichtlich war ich zu nachlässig oder habe sie unterschätzt. Wie dem auch sei, ich musste verhindern, dass sie auf die Stadtautobahn rennt, deshalb habe ich unter einem Vorwand am Fenster gerüttelt. Vom Geräusch angelockt, ist sie dann zum Haus geeilt. Was für ein Kuddelmuddel. Zwei ungebetene Besucher, und den Taxifahrer musste ich später auch noch abwimmeln.«
»Und jetzt? Wollen Sie mich ebenfalls in den Selbstmord treiben, wie die Frauen? Oder zerstückeln, so wie Sie es mit Leonard Schlier gemacht haben?«
»Schlier war eine Ausnahme. Der besessene Kerl hat tatsächlich diesen Ordner über mich angelegt, den ich Ihnen gezeigt habe. Er kam mir erstaunlich nahe mit seinen Recherchen. Ich wollte kein Risiko eingehen, außerdem brauchte ich sein Haus.«
»Sie sind einfach nur krank.«
Suker verzog belustigt die Lippen. »Genauso ungestüm und wild wie unsere blinde Freundin, nicht wahr? Sie geben wirklich ein gutes Paar ab, Sie und Alina. Ich kann verstehen, dass Sie Gefühle füreinander hegen.« Er lächelte breiter. »Das tun Sie doch, oder nicht?«
Wegen meiner Kopfschmerzen traten mir Tränen in die Augen, was Suker vermutlich als eine Bestätigung seiner Vermutungen missverstand. Er nickte wissend.
»Ja, ja, ich war auch mal verliebt. Es ist lange her. Ihr Name war Marén. Sie studierte Medizin, so wie ich, und wir träumten von einer gemeinsamen Praxis.«
Während er sprach, trat Suker einen Schritt vor und legte mir kommentarlos die Plastiktüte in den Schoß.
»Wir wollten heiraten, und als sie schwanger wurde, machte ich ihr einen Antrag. Marén war kirchlich engagiert, sie sang zweimal die Woche im Chor, organisierte Bibelrunden mit den Konfirmanden. Ich selbst bin nicht getauft, wollte ihr zuliebe aber in die Kirche eintreten. Sie träumte von einer Hochzeit in Weiß. Ihre Eltern hätten sonst nie die Zustimmung gegeben, und die war ihr wichtig. Ihre gesamte Familie war streng religiös. Sie durften nichts von ihrer Schwangerschaft erfahren, bevor der Bund der Ehe ihr die Sünde nahm.«
Ich sah auf die Tüte in meinem Schoß und versuchte zu begreifen, worauf sein irrsinniges Spielchen hinauslief.
»An dem Abend, an dem sie mit der Pfarrerin unsere Trauungszeremonie besprechen wollte, kam sie nicht mehr nach Hause. Der Hausmeister, Klaas hieß er, hatte sie belauscht. Ein geistig verwirrter Sozialarbeiter, heimlich verliebt in meine Marén. Als er von unseren Hochzeitsplänen hörte, übermannte ihn die Eifersucht. Er lauerte ihr auf dem Parkplatz auf und zerrte sie in seinen Lieferwagen. Sie erstickte an ihrem Erbrochenen, während er sie fickte.«
Suker hob entschuldigend beide Hände. Sie steckten in groben Gummihandschuhen, wie man sie für die
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