Der Augenjäger / Psychothriller
hatte tief ein- und wieder ausgeatmet, um ihren Puls zu beruhigen. Hatte auf Geräusche und andere Lebenszeichen hinter der Tür geachtet, dabei hatte ihr schon die bloße Berührung mit der Hand klargemacht, dass durch dieses dicke Türblatt ohnehin kein Schall hätte dringen können, weder nach innen noch nach außen.
Am Ende hatte sie sich gesagt, dass ihr keine andere Wahl blieb, als es zu wagen.
Sie war in die Kälte hinausgetreten und hatte sich nicht zum ersten Mal gefragt, ob sie gerade dabei war, in eine Falle zu tappen.
Die befreite Hand. Der Karabinerhaken. Der Schlüssel. Die offenen Türen.
Allerdings konnte man nicht gerade behaupten, dass Suker es ihr leichtgemacht hätte. Überhaupt, was sollte er sich von der Provokation eines Fluchtversuchs versprechen? Und wenn er ihn hätte unterbinden wollen, hätte er sie doch bereits unten an der Treppe stellen können, nicht wahr?
Aber das war nicht passiert, und auch jetzt stellte sich ihr niemand in den Weg. Keiner rief ihren Namen. Keiner schlug sie nieder.
Sie stolperte zitternd voran, versank in schenkelhohen Schneemassen und wartete jede Sekunde darauf, überrumpelt und niedergestreckt zu werden.
Jetzt war sie froh, doch noch auf Nicola gehört zu haben. Der Kittel war zwar ein Witz, aber wenigstens hatte sie etwas, worum sie die Arme schlingen konnte.
Jeder Atemzug schmerzte, nicht nur der verletzten Rippen wegen, sondern weil die Kälte tief in die Bronchien drang. Trotzdem sog Alina gierig die Luft ein. Sie war nicht frisch, schmeckte nach Abgasen, Teer und Industriegebiet. Aber wenigstens roch sie nach Freiheit und nicht nach feuchten Wänden und Angstschweiß, wie unten im Keller.
Und jetzt? Wo gehe ich hin?
Sie hatte keinerlei Orientierungssinn mehr, als wäre ihr innerer Kompass mit dem Sturz auf die Liege zerbrochen. Es war dunkel, es gab keine noch so schwache Lichtquelle, nach der sie sich hätte ausrichten können. Das einzige Lebenszeichen in ihrer näheren Umgebung war das stetige Rauschen, etwa hundert Meter vor ihr.
Autos. Ich höre Autos,
dachte sie und wusste, dass ihr nächster Entschluss sicher keine gute Idee war. Aber was blieb ihr für eine Wahl?
Blind stapfte sie durch den Schnee, der schwer befahrenen Stadtautobahn entgegen, als sie nur wenige Meter entfernt ein völlig unerwartetes Geräusch hörte.
58. Kapitel
Alexander Zorbach
L eonard Schlier ging zu einer mit Büchern vollgestellten Schrankwand und zog ein Schubfach zwischen zwei Regalabschnitten auf. Er nahm ein Fotoalbum heraus.
»Das hier habe ich angelegt, während Tamara …« Seine Stimme wurde brüchig, er hustete verlegen, als schäme er sich seiner Emotionen. »Nun ja, als sie weg war und später, in der Zeit nach Sukers Verhaftung.«
Er trug das Album zu einer Anrichte vor dem Fenster und schauderte. »Es zieht«, sagte er, die Arme um den Körper schlingend. Er öffnete das verzogene Holzfenster für einen Moment, um es sofort wieder zu schließen. Unzufrieden darüber, dass die Kälte offenbar immer noch durch die Ritzen drang, schleppte er das Album zurück zum Couchtisch und setzte sich wieder mir gegenüber.
Unzählige Zeitungsartikel quollen an den Rändern des Bandes hervor. Er tippte auf den geschlossenen Deckel.
»Hier steht alles drin. Alles über Suker und seinen Prozess. Die Recherchen sind sehr aufschlussreich. Ganz besonders die Theorie eines Psychologen, der die Vermutung aufstellt, Zarin Suker entspräche nicht dem herkömmlichen Persönlichkeitsprofil eines Serientäters.«
Ich dachte kurz darüber nach, in was für einer Welt wir lebten, in denen die Worte »herkömmlich« und »Serientäter« in einem Atemzug genannt werden konnten, ohne dass es merkwürdig klang, und verpasste darüber den Anfang von Leonards nächstem Satz.
»… er hatte keine schwere Kindheit. Die meisten Sadisten entschuldigen ihre späteren Untaten ja damit, dass der böse Onkel früher zu ihnen unter die Decke gekrochen ist. Nicht Suker. Laut diesem Psychologen«, Leonard tippte mit dem Zeigefinger auf das Album, als versteckte sich der Mann direkt unter dem giftgrünen Ledereinband, »gab es bei dem Augenarzt keine Anzeichen für Missbrauch. Eher im Gegenteil. Er soll behütet aufgewachsen sein, hatte eine harmonische Kindheit in einem gutbürgerlichen Elternhaus. Seine Lehrer und Mitschüler konnten nicht die geringste Verhaltensauffälligkeit feststellen. Keine Tierquälerei, kein Bettnässen, kein Zündeln, das höchste der Gefühle war ein Tadel,
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