Der Augenjäger / Psychothriller
Männern, die mir alle ins Gesicht starrten. Sie wirkten krank, hatten aschfahle Haut, blutgeränderte Augen und mussten unentwegt blinzeln. Hob ich den Kopf, taten sie es mir gleich. Drehte ich ihn zur Seite, folgten sie meinen Bewegungen. Es waren unsagbar viele, alle ebenso wie ich mit einem schwarzen Lederriemen über der Brust und an den Händen an einen altertümlichen Rollstuhl gefesselt. Die Reihe der Stühle formte eine sanfte Ellipse, deren Kurve sich vor meinen Augen in der Illusion von Unendlichkeit verlor.
Ich hasste diesen Anblick. Hasste meine Spiegelbilder, die mir aus jeder Richtung, in die ich sah, selbst vom Boden aus, zurückgeworfen wurden. Und ich hasste die Stimme in meinem Ohr, mit der ich wieder zu mir gekommen war.
»Entschuldigen Sie bitte das Provisorium, Herr Zorbach.«
Aufrecht, mit durchgedrückten Schultern und einem breiten Lächeln traten Hunderte von Sukers Ebenbildern in mein Gesichtsfeld. Während meiner Bewusstlosigkeit hatte der Augenarzt eine erstaunliche Wandlung vollzogen. Hier in seinem Spiegelzimmer wirkte er um einiges jünger, agiler und geistig wacher als eben noch im Wohnzimmer.
»Mir scheint, Leonard Schlier war kein guter Architekt«, sagte er zerknirscht. »Die Wände seines Kellers sind schief, ich konnte die Spiegel leider nicht völlig symmetrisch anbringen.«
Wie jeder gute Schauspieler hatte Suker seinen Auftritt vorhin im Wohnzimmer nicht übertrieben. Er wusste, es sind die feinen Nuancen, die einer Rolle Tiefe und Glaubwürdigkeit verleihen. Leicht vorgezogene Schultern, ein herabhängender Unterkiefer, ein schief geknöpftes Hemd, der hastig übergeworfene Morgenmantel und die Katzenhaare auf den Hosen, schon hatten meine Augen in ihm den alternden Vater gesehen, den ich erwartet hatte. Der Umstand, dass Suker in den letzten Stunden nicht dazu gekommen war, sich zu rasieren oder die Haare zu waschen, war für seine Täuschung ebenfalls von Vorteil gewesen. Jetzt aber hatte er seine Maske abgenommen. Allein der frisch gestärkte Chirurgenkittel und der Mundschutz, der ihm um den Hals baumelte, verliehen ihm eine kraftvolle Aura.
»Sie hätten mal mein früheres Arbeitszimmer sehen müssen, Herr Zorbach. Da war alles akkurat ausgerichtet. Aber nach einer Meinungsverschiedenheit mit meiner Assistentin musste ich mir leider ein neues Versteck suchen, und nun habe ich mich vorübergehend hier eingerichtet.«
Er drehte sich vor mir im Kreis. Seine Füße tänzelten auf dem Spiegelparkett.
Ich hatte große Mühe, mich zu konzentrieren. Die unzähligen Spiegelbilder, die sich hinter Suker aufreihten, lenkten mich fast noch mehr ab als meine Schmerzen. Die zwanzigtausend Volt, die er mir mit dem Taser durch den Körper gejagt hatte, mussten die Rockband in meinem Kopf wieder zum Leben erweckt haben. Ihre Verstärker brüllten auf voller Lautstärke.
»Wo?«, fragte ich, was Suker falsch verstand.
»Kommt darauf an, welchen Körperteil Sie meinen. Leonards Rumpf steckt noch oben in der Gefriertruhe, seine Arme hat die Müllabfuhr mitgenommen.«
»Ich meinte Alina.«
»Ah, der geht’s gut. Sie ist gleich so weit.«
So weit?
»Was haben Sie vor?«
Meine Kopfschmerzen wurden so stark, dass ich für einen Moment die Augen schließen musste. Als ich sie wieder öffnete, sah ich die Plastiktüte in Sukers Hand.
Er hielt sie etwas auf Abstand, wie einen stinkenden Müllbeutel, den man zur Tonne bringt.
Mach mal Urlaub,
stand in großen Lettern auf der Vorderseite.
»Wissen Sie eigentlich, was ich hier so treibe?«, fragte er.
»Sie zerstören Menschen.«
»Falsch.« Er kam einen Schritt näher. »Ich öffne ihnen die Augen, damit sie nicht länger den Blick vor ihrer Schuld abwenden können.«
Ich suchte in Sukers Gesicht nach einem Zeichen seiner Geisteskrankheit – ein Blinzeln, ein Zucken in den Augenwinkeln, ein wahnsinniges Lächeln,
irgendetwas.
Aber der Einzige, der in diesem Raum einen kranken und verwirrten Gesichtsausdruck hatte, war ich selbst, wie mir der unvermeidliche Blick in die Spiegelwände verriet.
»Wie ich eben schon sagte«, begann Suker zu dozieren. »Ich hatte eine behütete Kindheit. Ich habe nie gezündelt, keine Tiere gequält, war nie Bettnässer.«
Er stand nur noch eine Armlänge von mir entfernt und hob die Tüte in seiner Hand. In ihr lag ein unförmiger Gegenstand, der den Beutel nach unten zog.
»Und dennoch sind Sie ein Psychopath geworden«, sagte ich mit weitaus weniger Verve, als ich es gewollt hätte. Suker
Weitere Kostenlose Bücher