Der Augenjäger / Psychothriller
weil er auf der Klassenfahrt nachts beim Knutschen mit einem Mädel erwischt worden war.«
Ich sah zu dem Couchtisch. Dann zog ich mein Handy aus der Tasche, um zu sehen, wie spät es war, und stellte fest, dass ich kaum Netz hatte. Nicht ungewöhnlich in den Randbezirken. Es war etwas anderes, was mich zunehmend beunruhigte, doch aus irgendeinem Grund konnte ich es in diesem Moment nicht fassen.
»Wie Sie schon sagten, Herr Schlier. Das sind die Theorien eines Psychologen.«
»Sind sie nicht«, fiel er mir ins Wort, fast schon etwas rüde. »Tamara hat es bestätigt.«
»Moment mal …« Meine innere Unruhe wuchs. Ich spürte, ich war kurz davor, eine wichtige Entdeckung zu machen. »Hat Suker etwa mit Ihrer Tochter über seine Motive geredet, bevor er sie …?«
Leonard kniff wütend die Lippen zusammen. »Ja.«
»Und weiß die Polizei davon?«
Der alte Mann ließ die Arme hängen und seufzte leise. »Ach Gott, nein. Das ging doch nicht.«
»Weshalb nicht?«
Weshalb haben Sie keine Aussage gemacht, wenn Ihre Tochter es schon nicht tat?
In diesem Augenblick klingelte es an der Haustür.
»Ah, endlich. Das Taxi ist da«, sagte Leonard und deutete zum Flur. »Kommen Sie. Das können wir ja auf der Fahrt ins Krankenhaus besprechen.«
Ich folgte ihm und half ihm in einen Mantel, der viel zu groß für ihn wirkte.
Wie meine Oma, die auch immer Angst vor Einbrechern hatte, spähte er erst durch den Türspion, bevor er das Schloss entriegelte.
»Ach, wir haben das Buch vergessen.« Er drehte sich zu mir um. »Wollen Sie es mitnehmen?«
»Sehr gerne.« Meine Kopfschmerzen waren wieder so heftig geworden, dass ich mich kaum noch konzentrieren konnte. Fast hätte ich Informationen zurückgelassen, die mir dabei helfen konnten, Alina zu retten und den Mörder meines Sohnes zu stellen.
Ich eilte ins Wohnzimmer zurück und griff mir das Album. Dabei fiel mein Blick unter den Couchtisch, und in dieser Sekunde wusste ich, was mich die ganze Zeit so beunruhigt hatte.
Die Hausschuhe.
Ich hörte, wie Leonard den Fahrer an der Tür begrüßte.
Sie sind viel größer als seine Stiefel. Genauso wie der Mantel an der Garderobe …
»Da sind Sie ja.«
Mit der freundlichen Stimme des alten Mannes in meinem Ohr öffnete ich das Fotoalbum, und mein Verstand setzte aus.
Das darf nicht wahr sein,
dachte ich. Angst lähmte erst meine Gedanken, dann meine Bewegungen. Meine Augen sprangen von Foto zu Foto. Von Bildunterschrift zu Bildunterschrift. Name und Gesicht waren in jedem Artikel identisch.
Zarin Suker.
Zum ersten Mal sah ich sein Konterfei. Zum ersten Mal war mir ein Blick auf die Berichterstattung über diesen Fall vergönnt, nach Wochen außer Gefecht auf Schwanenwerder.
»Was für eine Überraschung«, hörte ich den alten Mann an der Tür sagen, der ganz anders aussah als der auf den Fotos vor meinen Augen. »Das hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, mein Kind.«
Wieso nennt er den Taxifahrer »mein Kind«?
In diesem Moment erwachte ich aus meiner Starre. Ich ließ das Fotoalbum fallen und drehte mich in Richtung Flur. Was hatte Tamara zu mir gesagt?
»Iris ist die perfekte Schauspielerin. Sie tat nur so, als ob sie unter den Verletzungen leide, die Suker ihr angeblich zugefügt hatte.«
Wie hatte ich nur so blind sein können?
Tamara hatte mich doch geradezu mit dem Kopf darauf gestoßen, wer sie in Wirklichkeit war, und trotzdem war ich in ihre Falle getappt.
»Ein Chamäleon, Sie würden sie nicht erkennen, selbst wenn sie direkt vor Ihnen stünde.«
Genauso wenig, wie ich Zarin Suker erkannt hatte, als er eben vor mir saß. Ich rannte in den Flur zurück, doch da war alles schon zu spät.
Es gab keinen Taxifahrer. Nur Alina, die mit einem dünnen Chirurgenkittel bekleidet reglos im Hausflur lag. Dann berührte mich Zarin Suker mit demselben Elektroschocker, mit dem er sie zuvor bereits ausgeschaltet hatte.
Unsere Generation wird nicht so sehr die Untaten böser Menschen zu beklagen haben als vielmehr das erschreckende Schweigen der Guten.
Martin Luther King
Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft.
§ 323 c StGB
59. Kapitel
Alexander Zorbach
A ls ich wieder zu mir kam, saß ich in einem Raum mit vielen
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