Der Augenjäger / Psychothriller
sie erschießen und nicht mich.«
»Weshalb?«, fragte ich, nur um den Wahnsinnigen so lange am Sprechen zu halten, bis mir ein Plan einfallen wollte. Dennoch ließen mich seine nächsten Worte aufhorchen.
»Ihre blinde Freundin hat geschwiegen. Und ihr Schweigen kostete Ihren Sohn das Leben.«
Ich sah zu Alina.
»Das ist doch Scheiße«, fluchte sie. »Hör nicht auf ihn. Er spielt nur mit uns. Baller ihm ins Knie, und dann befrei mich!«
»Das geht nicht«, sagte ich, die Waffe weiter auf Sukers Kopf gerichtet.
»Ganz genau«, bestätigte der Augenarzt. »Ganz gleich, wie verwundet ich bin, ich hätte immer noch die Zeit und die Kraft, mich hier rauszuschleppen und Sie beide hier unten verhungern zu lassen.«
Er kam einen Schritt auf mich zu.
»Kommen Sie, Zorbach. Glauben Sie wirklich, ich bin so blöd, Ihnen eine geladene Waffe zu geben, wenn ich nur im Ansatz glaubte, Sie könnten die einzige Kugel darin an mich verschwenden wollen?« Er deutete auf die Pistole in meiner Hand. »Hier geht es nicht um mich oder die Blinde. Hier geht es um die Frage, ob Sie Manns genug sind, Alinas Schuld zu sühnen, oder ob ich das alleine machen muss.«
»Ich bin unschuldig, Sie kranker Bastard!«, schrie Alina.
»Ach ja?« Suker schnellte herum. »Dann stimmt es also nicht, dass Ihr Name in Wahrheit gar nicht Alina Gregoriev ist?«
»Was …?«
Er fiel ihr ins Wort. »Dann haben Sie ihn nicht geändert, kurz nachdem Sie nach Berlin kamen?«
»Das geht Sie gar nichts an.«
Während Suker sprach, ließ er mich nicht aus den Augen. »Sie wurden belästigt, nicht wahr, Alina? Sie erinnern sich doch noch gut an die Zeit, es ist ja noch nicht lange her. Zuerst waren es nur die Briefe eines harmlosen Verehrers. Dann lagen Blumen vor der Tür. Und schließlich wachten Sie eines Nachts auf, und der Unbekannte lag neben Ihnen im Bett, richtig?«
Alina öffnete den Mund, blieb aber stumm.
Was geht hier vor?,
dachte ich und kämpfte gegen eine dunkle Vorahnung an.
»Sie haben sich damals entschieden, nicht zur Polizei zu gehen, war es nicht so?«
»Weil ich nichts beweisen konnte.«
»Weil Sie nur an sich gedacht haben.«
»Was hat das hiermit zu tun, verdammte Scheiße?« Alina rüttelte wieder an ihren Klebebandfesseln, und Suker ging zur Matratze zurück. Er schaltete den Generator ab und beugte sich zu ihr hinunter.
»Der Mann, der Sie belästigte, stand damals noch am Anfang seiner kriminellen Karriere. Heute kennen wir ihn als den Augensammler.«
Eine kurze Pause. Dann stieß Alina hörbar die Luft aus. »Sie lügen.«
Weil sie mit ihrer Stimme am Ende oben blieb, klang es ein wenig wie eine Frage.
»Tue ich nicht«, sagte Suker. »Ich weiß es vom Augensammler persönlich. Von wem auch sonst? Sie haben dieses pikante Geheimnis ja nicht einmal Ihrem besten Freund anvertraut, richtig?«
Suker wandte den Kopf zu mir. »Begreifen Sie, was ich Ihnen damit sagen will, Zorbach?«
Es war das erste Mal, dass er auf die Höflichkeitsanrede verzichtete. Er spielte nicht länger die Rolle des gebildeten Arztes. Jetzt war er nur noch er selbst. Eine Verkörperung reinsten Irrsinns.
»Wäre Alina damals zur Polizei gegangen, hätte man Nachforschungen angestellt. Man hätte Haare im Bett gefunden, DNA und Fingerabdrücke gesichert. Daten, die bereits polizeidienstlich erfasst waren. Wussten Sie das?«
»Das ist nicht wahr«, wollte ich sagen, doch mir kam nur ein Krächzen über die Lippen.
Franks Fingerabdrücke? Wie sollten die in den Polizeicomputer gelangt sein?
»Oh doch, es ist die Wahrheit. Der spätere Mörder Ihrer Familie hat vor Jahren freiwillig an einem Massen- DNA -Test teilgenommen. Hätte Ihre liebe Freundin damals nicht geschwiegen, dann hätte man ihn stellen können, bevor er Ihre Frau ermordete.«
»Quatsch. Eine sexuelle Belästigung hätte ihn nicht für Jahre hinter Gitter gebracht.«
»Nein, aber ein Psychiater hätte mit einfachen Tests seine Gefährlichkeit feststellen und eine Zwangstherapie empfehlen können. Andere Opfer hätten sich gemeldet. Der Lauf der Dinge wäre in jedem Falle ein völlig anderer gewesen. Er hätte sicher die Stadt, vielleicht das Land verlassen. Und selbst wenn er in Berlin geblieben wäre, hätte die Polizei ihn spätestens nach dem ersten Mordfall routinemäßig überprüft.« Suker sah mich mitleidig an. »Die Serie des Augensammlers hätte niemals Ihre Familie erreicht.«
»Sie lügen!«, schrie ich.
Er schüttelte den Kopf. »Bedenken Sie nur das Leid, das
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