Der Augenjäger / Psychothriller
Alina hätte verhindern können. All die Familien, die Frauen und Kinder … Ihr Sohn wäre noch am Leben.«
Gegen meinen Willen war es Suker gelungen, mich aufzuwühlen. Der Wunsch, mich an jemandem für meine Verluste rächen zu können, war so übermächtig, dass ich für eine Sekunde die Waffe senkte und tatsächlich über Alinas Schuld nachdachte.
Ich wusste, ich wurde manipuliert. Ich wusste, ein Psychopath machte sich meine körperlichen und seelischen Verletzungen zunutze. Suker verdrehte die Welt, stellte Gut und Böse auf den Kopf und machte Opfer zu Tätern, um seine kranken Taten zu rechtfertigen. Ich hasste mich dafür, dass es ihm zumindest so weit gelungen war, die Saat seines widerlichen Gedankenguts in mich einzupflanzen, dass ich mich emotional völlig verwirrt fühlte.
»Sag, dass es nicht wahr ist«, bat ich Alina.
Hätte sie tatsächlich den Tod meines Sohnes verhindern können, indem sie einfach nur zur Polizei gegangen wäre und ihre sexuelle Belästigung angezeigt hätte?
Sie gab mir eine Antwort, die ich nicht hören wollte. »Es tut mir leid.« Alina räusperte sich. »Es stimmt, ich bin belästigt worden. Ich habe geschwiegen. Weil ich blind bin. Weil ich nichts hätte beweisen können.«
»Also sind Sie geflüchtet«, sagte Suker im Tonfall eines Anklägers. »Haben sich hinter einer neuen Adresse und einem neuen Namen versteckt. Doch der Augensammler hat Sie schließlich wiedergefunden, nicht wahr? Hatten Sie nicht schon von Anfang an ein schlechtes Gefühl, als Sie ihn an jenem Tag vor zwei Monaten behandeln sollten? Wollten Sie die Therapie nicht abbrechen? Weil Sie gespürt haben, dass der Mann in Ihrer Praxis derselbe war, der Sie Jahre zuvor einmal hatte vergewaltigen wollen?«
»Ja!«, hörte ich Alina brüllen. »Ja, aber ich wusste doch nicht,
wer
es war. Weder als er mich belästigte, noch als er wiederkam.«
Ich schloss die Augen.
»Unwissenheit schützt vor Strafe nicht, mein Kind. Wären Sie schon vor Jahren zur Polizei gegangen, hätte Alexander Zorbach heute noch eine Familie. Das ist Ihre Schuld.«
Er drehte sich zu mir.
»Und Sie können diese Schuld jetzt rächen, wenn Sie mögen.«
62. Kapitel
I ch kniff ein Auge zusammen, zielte auf Alinas Kopf. Suker war aus meinem Schussfeld getreten und nickte mir wohlwollend zu.
»Wenn es Ihnen dadurch vielleicht leichter fällt …«, sagte er. »Sie ersparen Ihrer blinden Freundin einen unangenehmen Eingriff. Eigentlich wollte ich Frau Gregoriev die Lider erst nach der Hornhauttransplantation entfernen. Aber nun hat sie mit ihrem Fluchtversuch alles durcheinandergebracht, und das muss bestraft werden.«
Ich nickte, hielt die Luft an. Der Abstand betrug nur anderthalb Meter. Mein Ziel war nicht zu verfehlen.
»Bitte, Alex«, hörte ich Alina sagen. Sie hatte das Gesicht zu mir gedreht.
Hätte ich es nicht besser gewusst, so wäre es mir erschienen, als sähe sie mir direkt in die Augen. Ich spürte ihren seelischen Schmerz, der weitaus größer war als der, den die harten Klammern in ihren Augen hervorriefen. Suker hatte ganze Arbeit geleistet. Alina fühlte eine Mitschuld am Tod meines Sohnes.
»Es tut mir leid«, sagte ich, blinzelte ein letztes Mal, weil mir eine Träne ins Auge gestiegen war, dann drückte ich ab.
Es gab einen lauten Knall. Der Rückstoß war kaum zu spüren, trotzdem glitt mir die Pistole aus der Hand. Der Spiegel unter mir platzte auf, als sie zu Boden fiel.
»Zu schade«, sagte Suker enttäuscht, als hätte er ernsthaft damit gerechnet, ich würde auf Alina schießen und nicht im letzten Moment die Waffe in seine Richtung herumreißen.
»Was ist passiert?«, fragte Alina verunsichert.
»Na ja, immerhin weiß ich jetzt, woran ich mit Ihnen bin.«
Suker setzte den Mundschutz auf und strich sich mit der Hand über die Stelle seines Kittels am Brustkorb, wo die Kugel ihn hätte treffen sollen.
»Ich wünschte wirklich, Sie hätten den Vertrauenstest bestanden, Zorbach. Dann hätte ich Sie vielleicht sogar laufenlassen, wenn das hier vorbei ist.«
Er bückte sich, nahm eine Nierenschale aus Edelstahl aus dem Pilotenkoffer und stellte sie neben der Matratze auf den Boden. Sorgsam wählte er ein Skalpell mit einer leicht geschwungenen Klinge aus.
Ich sah abwechselnd auf das Messer in seiner Hand und zu der nutzlosen Waffe am Boden.
Jetzt nur keinen Fehler machen.
Ich hatte es schon vor dem Schuss gewusst. Die Waffe hatte sich falsch angefühlt. Zu leicht. Statt mit scharfer Munition
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