Der Augenjäger / Psychothriller
ganzes Krankenhaus. Und genau dorthin fahren wir jetzt.«
»Ich will nicht«, hörte ich Nicola hinter mir protestieren. Es waren die ersten Worte, die sie an uns richtete, seitdem wir sie befreit hatten. Suker hatte seinen Operationssaal in einem unterkellerten Schuppen neben dem Haus eingerichtet. Das Spiegelzimmer befand sich im Haupthaus, weswegen wir einige Zeit ziellos umherirrten, bis Alina sich daran erinnerte, dass sie auf ihrer Flucht geglaubt hatte, sie würde bei einem Nachbarn klopfen, nachdem sie Sukers Horrorhaus hinter sich gelassen hatte. In Wahrheit war sie, dem Verkehrslärm der Stadtautobahn folgend, nur einmal über den großen Hof gestolpert.
Als wir Nicola im Keller des Nebengebäudes fanden, lag sie dehydriert und apathisch auf dem OP -Tisch. Das ungewisse Warten, allein mit ihren Schmerzen, hatte ihr jede Hoffnung geraubt. Sie schrie, als wir das Licht anmachten. Brüllte, als ich ihre Ketten zersägte. Schlug mir ins Gesicht, als ich sie die Kellertreppe hinauftrug. Sie hielt die ganze Zeit die Augen geschlossen, wohl aus Angst, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Bis zu dem Moment, in dem ich Nicola ins Auto setzte, hatte sie befürchtet, Suker wäre zurückgekommen, um ihr auch noch das zweite Auge zu nehmen.
»Was soll das heißen, sie will nicht ins Krankenhaus?«, fragte ich Alina mit Blick in den Rückspiegel. Sie zuckte nur mit den Achseln, während sie weiter beruhigend den Kopf des Mädchens streichelte.
»Du bringst sie besser alle ins Martin Luther«, sagte Stoya.
Martin Luther?
Das war mindestens zwanzig Minuten entfernt.
»Weshalb sollte ich diesen Umweg fahren?«
»Nicht am Telefon.«
Stoya war Politiker. Schlau genug, seine Antworten so zu formulieren, dass selbst ein Mann mit Kopfschuss die Wahrheit zwischen den Zeilen hören konnte.
»Frank?«, fragte ich atemlos. Aus irgendeinem Grund hatte meine Nase ebenso abrupt aufgehört zu bluten, wie sie damit angefangen hatte. Dafür begann die Narbe unter meinem Wundverband am Kopf zu jucken. Am liebsten hätte ich ihn heruntergerissen.
»Ich sagte doch, nicht am Telefon«, bestätigte Stoya meine Vermutung. »Nur so viel: Ich hab dir in den letzten Stunden nicht ohne Grund deine verdammte Mailbox vollgequatscht. Du solltest dich besser beeilen.«
64. Kapitel
Alina Gregoriev
A lina hörte, wie das Tuckern des Diesels sich immer weiter von ihnen entfernte, dann drückte sie Nicolas Hand.
»Du musst mich führen, okay?«
Es hatte erstaunlich wenig Überredungskunst bedurft, Zorbach davon zu überzeugen, sie auf dem Weg ins Martin-Luther-Krankenhaus hier abzusetzen. Alina kannte die Neubausiedlung. In der Zeit kurz nach den Belästigungen – die, wenn man Suker glauben durfte, auf Franks Konto gingen – hatte sie überlegt, sich hier an den Zehlendorfer Stadtrand zurückzuziehen. Die Mieten waren vergleichsweise günstig, aber am Ende hatte sie dann doch nicht meilenweit vom Zentrum entfernt in einem Reihenhauswürfel mit Handtuchgarten wohnen wollen.
»Und ihr schafft das auch?«,
hatte Zorbach noch einmal nachgehakt.
Die Ungeduld in seiner Stimme hatte eine weniger fürsorgliche Sprache gesprochen. In Wahrheit wollte er so schnell wie möglich weiter und war froh, dass Nicolas Wunsch ihm die Gelegenheit gab, seine Jagd auf Frank allein fortzusetzen. Schließlich hatte er noch versprochen, einen Rettungswagen vorbeizuschicken, bevor er mit durchdrehenden Reifen davonraste.
»Danke sehr«, sagte Nicola, ihre Hand in Alinas verschränkt. Der Weg, den sie durch den Vorgarten nahmen, war vereist. Zum Glück hatte Alina in einem Karton vor dem Spiegelzimmer ihre Kleider gefunden, sie trug sogar ihre Perücke wieder; dennoch erinnerte sie der Gang über den festgefrorenen Schnee an die qualvollen Minuten, in denen sie barfuß über den Hof geflohen war. Auch Nicola war dick eingepackt, wenn auch in viel zu großen, muffigen Pullovern, die einmal Leonard Schlier gehört hatten. Ihre Füße schlackerten in hastig verschnürten Bauarbeiterstiefeln, die der Architekt auf seinen Baustellen getragen haben mochte.
Der Wind schnitt mit eisiger Klinge in ihre nackten Finger, aber Alina wollte das Mädchen nicht loslassen, das umso mehr zitterte, je näher sie der Haustür kamen. Das lag nicht allein an der Kälte. Es war erst wenige Tage her, dass Johanna Strom in ihrem Wohnzimmer gesessen und sie um Hilfe bei der Suche nach ihrer Tochter gebeten hatte – doch es kam Alina vor, als läge es Jahre zurück, dass die Mutter ihr
Weitere Kostenlose Bücher