Der Augenjäger / Psychothriller
Nicolas Foto zurückgelassen hatte.
Von dem Moment an, da Alina im Auto das Flugblatt aus ihrer Hosentasche gezogen und Zorbach nach vorne gereicht hatte, damit er sie zu der darauf notierten Adresse brachte, glühte Nicola förmlich vor Aufregung.
»Es gibt nichts, wofür du dich bedanken müsstest, Kleines. Das bin ich dir schuldig.«
Natürlich war es im Grunde unverantwortlich, weder zur Polizei noch ins Krankenhaus zu fahren, aber Alina verstand Nicolas Sehnsucht nach ihrer Mutter nur zu gut. Am Ende, so wusste sie aus eigener Erfahrung, würden weder Ärzte noch Pillen die traumatischen Wunden ihrer monatelangen Folterhaft heilen können. Das würde nur der Liebe nahestehender Menschen gelingen können, wenn überhaupt.
»Ich hätte nie gedacht, dass Mama mich wirklich sucht«, hörte sie Nicola sagen. Sie stand entweder kurz davor zu weinen, oder ihr liefen bereits die Tränen herab. »Dass sie dafür sogar wieder nach Berlin zieht. Mann, ich hab immer geglaubt, sie interessiert sich einen Scheiß für mich. Deshalb hab ich ihr auch nichts davon erzählt, was für Probleme ich mit Papa hatte.«
Alina erinnerte sich an das, was Nicola gesagt hatte, als sie in Sukers Keller gefangen gewesen waren.
»… aber der ist sicher ganz froh, dass ich weg bin. So kann ich wenigstens keinem erzählen, wie er mich befingert hat, kaum dass ich bei ihm eingezogen war.«
Während sie vorhin durch Leonards Haus geirrt waren, hatte Zorbach Alina erklärt, wie der Psychopath mit Hilfe einer betrügerischen Telefonseelsorge an seine Opfer gelangt war. Sie ging jede Wette ein, dass auch Nicola jene Nummer gewählt hatte, nachdem ihr Vater zudringlich wurde. Und nun ergab es auch einen Sinn, dass Suker Nicolas Mutter in der Hamburger Nervenheilanstalt besucht hatte, um ihr das Bild der gequälten Tochter zu zeigen: als Strafe für Johanna Stroms Schuld, die Anzeichen des Missbrauchs nicht bemerkt zu haben.
»Wie weit ist es noch?«, fragte Alina.
»Gleich da«, sagte Nicola aufgeregt. »Ich glaube, sie ist zu Hause. In der Küche brennt Licht.«
Noch ein paar wacklige Schritte, dann blieben sie stehen.
»Kannst du ihren Namen am Klingelschild lesen?«
»Ja.« Nicola schluckte. »Soll ich?«
Alina nickte. »Nur zu.«
Sie hörte einen hellen Glockenton im Inneren des Hauses, dann wurde ein Stuhl gerückt; es folgten gedämpfte Schritte, die langsam näher kamen.
Alina klopfte das Herz bis zum Hals. Wie musste sich da erst Nicola fühlen? Sie stellte sich das fragende Gesicht von Johanna Strom vor, die sicher mit allem rechnete, nur nicht mit ihrer seit Monaten vermissten Tochter.
Sie meinte schon den Aufschrei zu hören. Erst ungläubig – mit einem abrupten Ende, weil sich die Mutter erst einmal die Hände vors Gesicht schlug. Dann, nach einer Schrecksekunde, wieder laut und unkontrolliert, gleichermaßen erfüllt von Freude und dem über Monate angestauten Leid, das sich jetzt ein Ventil suchte.
Fast wünschte sie sich, sie könnte mit ansehen, wie Mutter und Tochter sich weinend gegenüberstanden, bevor sie sich in die Arme fielen, hoffend und betend, dass es kein Traum war. Einer dieser Träume, der sie für einen kurzen Moment zusammenführte, bevor sie wieder alleine aufwachten, wie an Hunderten von Tagen zuvor. Aber dieser Wunsch erinnerte sie an Suker, der in ihr die Hoffnung, wieder sehen zu können, erst genährt und dann für immer vergiftet hatte, als er das Mädchen an ihrer Seite verstümmelte.
Da sie mit einem gewaltigen Emotionsausbruch gerechnet hatte, war sie schließlich über die Heftigkeit der Reaktionen nicht überrascht, als endlich die Tür geöffnet wurde.
»Ja bitte, was kann …?« Johanna Strom brach, wie erwartet, mitten im Satz ab und stieß einen spitzen Schrei aus.
»Oh Gott«, hörte sie Nicola neben sich keuchen. Sie hatte ihre Hand weggezogen, vermutlich, um sie ihrer Mutter entgegenzustrecken.
»Sie haben sie mir zurückgebracht«, rief Johanna. »Sie haben mir meine Nicola zurückgebracht!«
In dieser Sekunde merkte Alina, dass etwas nicht stimmte. Nicola bebte. Sie zitterte. Und sie schrie. Alles wie erwartet, und doch passte es nicht zusammen.
Es fühlt sich falsch an,
dachte Alina, bevor sie sich darüber Gedanken machte, weshalb es Nicolas Aufschrei, im Gegensatz zu dem ihrer Mutter, an jeglicher Freude gefehlt hatte.
»Was hast du denn?«, fragte sie noch, bevor sie die Kontrolle über die Situation vollständig verlor.
»Wieso tust du mir das an?« Nicola brüllte
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