Der Augenjäger / Psychothriller
ist kein Patient, das ist der Mörder meines Sohnes«, spie ich ihm ins Gesicht.
»Zorbach, bitte«, sagte Stoya beschwichtigend hinter mir. Ich spürte seine Hand an meinem Oberarm.
»Der Mann da drinnen, Ihr
Patient,
hat meinen Sohn entführt und ermordet, und ich kann nicht zulassen, dass er auf dem OP -Tisch stirbt, bevor ich weiß, was er mit der Leiche gemacht hat, verstehen Sie?«
Ich brauche Gewissheit. Ich kann nicht weiterleben, ohne das Ende von Julian zu kennen, so schlimm es auch sein mag.
Der Chirurg atmete tief ein, als ich meinen Griff etwas lockerte.
»Ja, ich verstehe Sie. Ich bin auch Vater. Aber hier und jetzt bin ich Arzt. Und als solcher muss mir, so leid es mir manchmal tut, die Vorgeschichte meiner Patienten egal sein. Ich fühle mich dem Eid verpflichtet, Leben zu retten, und davon lasse ich mich auch von Ihnen nicht abhalten. Verstehen
Sie
das?«
»Schön. Gut. Alles klar.«
Ich ließ den Kittel los und trat einen Schritt zurück.
»Dann beantworten Sie mir nur eine einzige Frage«, sagte ich, als der Professor an mir vorbeiwollte. »Wie hoch sind die Chancen, dass Frank Lahmann den Eingriff da drinnen überleben wird?«
Gruenberg blieb stehen. Seine Gesundheitsschuhe quietschten, als er sich zu mir umdrehte. Ich sah es in seinen Augen. Wie er abwog. Ob er die Situation mit einer Lüge entschärfen würde, wenn er mir einen Erfolg garantierte. Oder ob er die Wahrheit sagen sollte. Ich zog meine Waffe und richtete sie auf ihn.
»Um Himmels willen, Zorbach«, hörte ich Stoya rufen. Aus den Augenwinkeln sah ich, wie er zu seinem Handy griff.
»In Prozenten, Doktor. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass er durchkommt?«
»Etwa dreißig«, presste Gruenberg hervor.
»Danke«, sagte ich nickend. »Aber das ist mir zu wenig.« Und dann drohte ich dem Chirurgen, ihn zu erschießen, wenn er mich nicht sofort in den Operationssaal brachte.
66. Kapitel
Alina Gregoriev
A lina lag auf den groben Platten eines steinernen Küchenfußbodens und fühlte jegliche Wärme aus ihrem Körper herausströmen.
Sie zitterte. Spürte das Messer in ihrem Unterleib mit jedem Atemzug vibrieren.
»
Unterleib«. Was für ein bescheuertes Wort,
dachte sie.
Fast so bescheuert wie »Frauenkrankheiten«.
Sie wollte etwas zu der Person sagen, die sich über sie beugte und deren feuchten Atem sie roch. Aber sie hatte schon zu viel Blut verloren, und ihr fehlte die Kraft, um zu fragen, weshalb die Frau ihr das antat.
»Nicola hat mein Gesicht gesehen«, sagte Iris, die in der Lache um ihren Körper stand, und Alina dachte:
Offenbar kann sie Blut lesen,
was eigentlich wenig Sinn ergab, aber andererseits: Welche Logik bestand darin, hier wie ein geschächtetes Opfertier in einer fremden Küche zu liegen?
»Ich konnte nicht zulassen, dass Suker sie mir wegnimmt.«
Also deswegen,
dachte Alina, froh, dass ihre Gedanken wieder Halt gefunden hatten. Kälte breitete sich in ihr aus, trotz des Feuers, das in dem Bereich wütete, den ihre prüde Großmutter immer nur »da unten« genannt hatte.
»Tut es dir wieder weh da unten, Schätzchen?«
»Oh ja, Omi. Ich glaub, ich muss mal zum Arzt.«
Deshalb also hatte Iris sie betrogen. Hatte in ihrem Wohnzimmer gesessen und sich stotternd und weinend als Johanna Strom ausgegeben, während die echte Mutter immer noch in der Hamburger Entzugsklinik auf eine Erfolgsmeldung der Polizei wartete.
»Iris ist eine sadistische Schauspielerin«,
erinnerte sie sich an einen Satz, den Nicola zu ihr gesagt hatte, als sie versucht hatten, aus dem Keller- OP auszubrechen.
»Einmal hat sie sich als Mitgefangene ausgegeben, nur um ein anderes Opfer zu demütigen.«
Und Alina gegenüber war sie in die Rolle der verzweifelten Mutter geschlüpft.
Nachdem sich Suker im Streit von Iris getrennt hatte, war das Risiko, entdeckt zu werden, zu groß für die Assistentin geworden. Sie hatte Nicola finden müssen; offenbar um jeden Preis.
Alina griff mit letzter Kraft nach dem Messer in ihrem Leib, versuchte zu ziehen, rutschte aber am Holzgriff ab.
Sie musste an Zorbach denken und an seinen Irrtum. Er hatte gedacht, Tamara sei Sukers Assistentin gewesen, dabei hatte ihn nur der Zufall in die Fänge des Augenarztes gelockt.
So wie ich Nicola, ohne es zu wissen, zurück zu ihrer Mörderin gebracht habe.
»Magst du deinen Finderlohn etwa nicht?«, hörte sie Iris fragen.
Und diesmal war die Frauenstimme keine Erinnerung in ihrem Kopf, sondern die Gegenwart – das war vielleicht die
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