Der Augenjäger / Psychothriller
schlimmste von all den Wahrheiten, die ihr nach und nach dämmerten: Bei allem, was sie »gesehen« hatte, hatte sie nicht in Sukers Körper gesteckt, sondern in ihrem eigenen! Jetzt verstand sie, warum die Vision erst nach der Behandlung Sukers aufgetreten war, als sie sich selbst unter Schmerzen berührt hatte. Es war nicht der Augenarzt, der jetzt die letzten Sekunden seines Lebens auf einem Fußboden verbrachte, sondern …
… sondern ich selbst! Ich sterbe …
Mit dieser grauenhaften Erkenntnis begann sich die Welt um sie herum zu drehen.
Sie hörte ihr eigenes Blut rauschen, fühlte den eigenen Herzschlag austrudeln, als hätte jemand in ihren Brustkorb hineingegriffen und ein Pendel ausgebremst.
Aber vielleicht habe ich es ja verdient,
dachte sie, während Iris sie ein letztes Mal verhöhnte: »Das war dein gerechter Finderlohn.«
Alinas Kopf sackte nach vorne, ihr Kinn lag auf der Brust. Aber sie schlief nicht. Sie glühte langsam aus.
Vor Jahren hatte ihr eine Wahrsagerin in Los Angeles für zehn Dollar aus der Hand gelesen und behauptet, sie würde ein langes Leben haben und als alte Frau friedlich wegdämmern, begleitet von Erinnerungen an die Menschen, die sie einst geliebt hatte.
Ich will mein Geld zurück,
dachte Alina, die sich in diesem Moment von allem, was sie liebte, so weit entfernt fühlte wie niemals zuvor.
Aber vielleicht ist das hier ja wirklich die gerechte Strafe für meine Schuld. Vielleicht hätte ich Julian retten können …
Sie kam nicht mehr dazu, den Gedanken zu vollenden und sich zu fragen, ob Suker recht hatte und Zorbachs Sohn heute noch leben würde, wenn sie damals zur Polizei gegangen und den Stalker angezeigt hätte. Ihr blieb nicht mehr die Zeit, darüber zu reflektieren, warum sie ständig die falschen Schlüsse gezogen hatte. Wann immer sie sich selbst unter Schmerzen berührt hatte, hatte sie die Welt nicht mit Sukers, sondern mit ihren eigenen Augen gesehen. Die Ironie des Schicksals, am Ende durch das Zusammentreffen mit dem wahnsinnigen Chirurgen doch noch ihre Sehkraft wiedergewonnen zu haben, wenn auch nur für einen kurzen Blick auf ihren eigenen Tod, erschloss sich ihr ebenso wenig wie die Erkenntnis, dass Suker vermutlich nie etwas über Julians Schicksal gewusst hatte. Zu all diesen Überlegungen war sie nicht mehr fähig. Nur das banale Geräusch einer Türklingel irritierte sie für einen Moment, weil sie sich bereits in einer Phase des Sterbens wähnte, in der äußere Einflüsse nicht mehr zu ihr vordringen konnten. Immerhin roch sie das Blut nicht mehr, in dem sie saß, und das Messer fühlte sich weiterhin
falsch
an, aber nicht mehr so, als habe sie eine in Säure getränkte Rolle Stacheldraht verschluckt.
Eigentlich hätte ihr die Klingel signalisieren müssen, dass die Helfer mit dem Rettungswagen vor der Tür standen, die Zorbach gerufen hatte, doch dafür war ihre Wahrnehmung schon viel zu gedämpft. Der summende Alarm hatte es aber wenigstens geschafft, sie für einen kurzen Moment in ihrem Prozess der Selbstaufgabe zu stören. Sie fühlte sich im Schwebezustand zwischen bleierner Ohnmacht und akutem Herzrasen, als hätte ihr in der Sekunde des Einschlafens jemand einen Wecker ans Ohr gehalten. Alina dachte an die letzte vertane Chance in ihrem Leben, als sie Zorbach vorhin in Leonards Haus nur kurz in die Arme geschlossen hatte, ohne ihm zu sagen, was sie für ihn empfand.
Ohne ihn zu küssen.
Es klingelte erneut an der Haustür.
Verdammt, hat man denn nirgends seine Ruhe?,
schoss es ihr durch den Kopf, und tatsächlich baute sich nun doch das Bild eines Menschen vor ihrem inneren Auge auf, mit dem sie einen großen Teil ihres blinden Weges gegangen war, der hier und jetzt in einer nach Blut und Abwasch stinkenden Küche enden sollte.
»Lust auf was Warmes?«,
fragte John, und sie nickte dem Trugbild zu, weil Wärme genau das war, was ihr jetzt am meisten fehlte.
Ach John. Immer da, wenn man dich braucht.
Sie war nie eine gute Köchin gewesen, hatte jede Gelegenheit genutzt, sich davor zu drücken, und jetzt, da klar war, dass sie es nicht mehr würde lernen können, bedauerte sie, dass sie ihrem besten Freund nie assistiert hatte, wenn er für sie kochte.
Sie hatte keine Ahnung, wie lange man Gemüse garen ließ, wie man eine Rotweinsoße machte oder was man mit einem Pürierstab anfing. Verdammt, sie wusste nicht mal, in welcher ihrer Schubladen die Geräte lagen, mit denen John immer so köstliche …
Schubladen?
Alina riss die
Weitere Kostenlose Bücher