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Der Augenjäger / Psychothriller

Der Augenjäger / Psychothriller

Titel: Der Augenjäger / Psychothriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sebastian Fitzek
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heterosexuellste Mann der Welt und war damit das beste Beispiel dafür, wie sehr man sich täuschen kann. Alina kannte ihn seit dem Kindergarten und hatte über all die Jahre ihrer Freundschaft ein so gutes Bild von ihm gewonnen, dass sie sich nicht mehr auf die Beschreibungen ihrer sehenden Freundinnen verlassen musste, die fast ausnahmslos von einem Techtelmechtel mit John phantasierten, sogar die verheirateten.
Vor allem die verheirateten!
    Während die sich zu Hause schon aufregten, wenn ihre Ehemänner die benutzten Teller nicht in die Spüle stellten, fanden sie bei John nichts daran auszusetzen, wenn er seine filterlose Kippe an der Sohle seiner Bauarbeiterstiefel ausdrückte. Ihr bester Freund verabscheute Duftwässer und Barbra Streisand, er hörte lieber Eminem oder
30
Seconds to Mars.
Und er hasste den Christopher Street Day, die fröhliche Parade, die jährlich im Sommer durch Berlin zog. »Wie sollen wir von den Heten denn ernst genommen werden, wenn wir uns auf Jahrmarktswagen wie Halbirre in Arschfreihosen präsentieren?«, kommentierte er regelmäßig die Fernsehbilder des Umzugs.
    Alina hatte ihre eigene Theorie, weshalb der ungehobelte Bursche, der sich redliche Mühe gab, sein markantes Gesicht unter zotteligen Haaren und einem Sechstagebart zu verstecken, so gut bei Frauen ankam. Sie sahen in ihm keine Gefahr. John war wie ein Thriller, den man las, um etwas Spannendes zu erleben, den man aber zuschlagen und weglegen konnte, sobald man genug von ihm hatte. Kein Typ Mann für mehrere Nächte. Man könnte gefahrlos mit ihm aufs Motorrad steigen und die Nacht am See verbringen, und nach zwei, drei Orgasmen wäre das Kapitel am nächsten Tag abgeschlossen. Die Frauen könnten danach nach Hause gehen und weiter darauf achten, dass ihr Gatte beim Zähneputzen den Hahn nicht laufen ließ.
Hätte, könnte, wäre.
Ein unerfüllbarer Konjunktiv, weil John nun mal schwuler war als der Bürgermeister. Alina wusste das aus eigener Erfahrung. Ein einziges Mal hatte sie ihn überreden können, mit ihr zu schlafen, und es hatte sich angefühlt, als wären sie zwei Grundschüler, die sich nackt aufeinanderlegten, um Sex zu »spielen«. Nach dreißig Sekunden hatte es in einem Lachanfall geendet, und damit war das Experiment ein für alle Mal gestorben.
    »Dein Besuch sieht echt krank aus«, hatte John ihr noch gesagt, während sie sich auf den Weg in ihr Wohnzimmer machte, wobei er
krank
wie
kränk
aussprach. »Haare wie Stroh, noch dünner als du und Zähne wie ein Gremlin. Deshalb dachte ich ja, sie braucht Hilfe. Und dann fängt sie auf einmal an zu heulen, die ist
crazy.
«
    Das war vor fünf Minuten gewesen, und zu diesem Zeitpunkt hatte man die Frau noch bis auf den Flur gehört. Jetzt, da Alina ihr gegenüber auf der Couch Platz genommen hatte, war der Tränenfluss noch immer nicht versiegt, aber die Begleitgeräusche hatten an Intensität verloren.
    »Wer sind Sie?«, fragte Alina, und es dauerte noch eine Weile, bis sie eine Antwort bekam. Endlich, nachdem sie sich bestimmt zum zehnten Mal die Nase geputzt hatte, knüllte die Frau das Taschentuch in den Händen zusammen und sagte:
    »Mein Name ist Johanna Strom.«

9. Kapitel
    A linas merkwürdiger Gast sprach so flüsternd und leise, wie sie Sekunden zuvor noch geweint hatte. »Strom, wie Energie, sagte mein Mann immer.«
    »Ah ja. Kennen wir uns?«
    »Nein, ich glaube nicht?«
    Die Unbekannte klang fragend, als wüsste sie es selbst nicht. Alina spürte, dass das Häufchen Elend vor ihr seine gesamte Existenz in Frage stellte. Sich niemals festzulegen, aus Angst vor Zurückweisung, schien der Frau in Fleisch und Blut übergegangen.
    Wow, was für eine psychologische Meisterleistung, Alina. Da sitzt eine Fremde heulend auf deinem Sofa und du tippst auf Selbstzweifel. Wahnsinn.
    »Und wie kann ich Ihnen helfen?«
    »Meine Tochter, ich … Moment …«
    Alina hörte ein Rascheln. Johanna Strom schien in ihrer Handtasche zu wühlen, und nach einer Weile hatte sie gefunden, wonach sie suchte.
    »Hier, ich hab’s immer in meinem Portemonnaie, immer bei mir. Da ist sie vierzehn, also vor zwei Jahren. Ich hab meine Maus sehr jung bekommen, als ich selbst gerade mal mein Abitur hatte. Sie heißt Nicola, und sie …« Die Frau brach abrupt ab und entschuldigte sich hastig. »Oh, tut mir leid, wie dumm von mir.«
    »Kein Problem.« Alina winkte ab.
    Es machte ihr tatsächlich nichts aus. Es gab schlimmere Fettnäpfchen, in die man treten konnte, als einem

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