Der Augenjäger / Psychothriller
inhaftierte Augenarzt. Alina war sofort zur Sache gekommen und hatte Stoya mit einer Gegenfrage geantwortet: »Wie glaubhaft ist die Zeugin Johanna Strom?«
»Strom?« Stoya hatte sich keine Akte kommen lassen müssen, er hatte auch nicht im Computer nachgesehen oder nach einem Kollegen gerufen. Er wusste sofort, von wem die Rede war.
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf
die?
«
»Sie hat mich gestern besucht.«
»Verstehe. Sie sollen ihr helfen. Hätte ich der armen Frau gar nicht zugetraut.«
»Was?«
»So viel Eigeninitiative. Die Strom ist höchst depressiv, noch dazu eine Trinkerin, und, soweit ich weiß, in psychiatrischer Behandlung, jedenfalls war sie es, als sie zu uns kam. Sie hatte einen Nervenzusammenbruch und heulte fast die ganze Vernehmung lang. Scholle hat sie damals befragt, glaube ich, aber ist ja auch egal. Eine Zeitlang, zwei Wochen etwa, tauchte sie fast täglich bei uns auf; am Ende hat sie uns vorgeworfen, wir hätten nichts unternommen. Hätten sie nicht ernst genommen. Aber das war nicht der Fall, obwohl sogar ihr Ehemann uns nahelegte, genau das zu tun und nicht auf eine verwirrte Hausfrau zu hören, die ihre Ehe in den Ruin säuft.«
»Und?«, hatte Alina provozierend gefragt.
»Und was?«
»Haben Sie nach dem Kind gesucht?«
»Nach Nicole oder Nicola oder wie immer sie hieß? Natürlich. Aber nicht im Zusammenhang mit Suker. Das war ein einfacher Vermisstenfall.«
Seit wann sind solche Fälle einfach?,
hatte Alina auf der Zunge gelegen, doch diese Bemerkung hätte zu nichts geführt. Also fragte sie: »Woraus haben Sie das geschlossen?«
»Das Kind war erst fünfzehn oder sechzehn, jedenfalls viel zu jung. Sukers Opfer sind alle volljährig, die meisten über dreißig. Außerdem sprach die Vorgeschichte eine eindeutige Sprache: zerrüttete Ehe, Vater zieht aus, pubertierende Tochter. Sie haben keine Kinder, Alina, aber Sie kennen doch die Gleichung, da gibt es keine Unbekannte. Das ist wie ein Dreisatz: Mutter säuft, Vater packt die Sachen, Kind haut ab. Das kommt in den besten Familien vor.«
Stoya war geräuschvoll hinter seinem Schreibtisch aufgestanden und beim Reden durch sein Büro marschiert. In Alinas Vorstellungswelt hatte er dabei mit beiden Händen gestikuliert.
»Mensch, Alina. Ich könnte Ihnen jetzt wirklich was vom Pferd erzählen, nur damit Sie mir den Gefallen mit Suker tun, was an sich ja schon ein Wahnsinn ist.« Stoya hatte in einem Tonfall geredet, der seine Worte Lügen strafte. Natürlich glaubte er an das Unmögliche. Zumindest war er so verzweifelt, es glauben zu
wollen.
Noch wenige Stunden und der Richter würde Sukers Haftbefehl aufheben und mangels Beweisen eine Bestie auf freien Fuß setzen.
»Vermutlich kommt nichts bei rum, und Sie sehen, fühlen oder spüren rein gar nichts bei ihm. Aber wenn doch, dann werden Sie damit ganz sicher nicht der armen Frau Strom helfen. Deren Tochter ist abgehauen, fragen Sie den Vater. Es gab einen Streit zwischen den beiden, wenn ich mich nicht täusche. Da müsste ich nachsehen, aber soweit ich weiß, haben sich Vater und Tochter am Vorabend gezofft, und am nächsten Tag war die Kleine verschwunden. Also wenn Sie mir einen Gefallen tun, dann gerne, ich freue mich. Aber tun Sie es aus anderen Gründen. Ich will Sie nicht mit einer Lüge motivieren.«
Am Ende war sich Alina nicht sicher, ob es nicht doch genau so gewesen war. Dass eine Lüge sie dazu gebracht hatte, zu Suker zurückzukehren, und zwar eine Lüge der schlimmsten Sorte: die Selbstlüge, sie könne damit einen schrecklichen Fehler wiedergutmachen.
»Was hat man Ihnen versprochen, damit Sie über Ihren Schatten springen?«, fragte der Augenchirurg, als habe er ihre Gedanken erraten. Suker war ohne eine weitere Aufforderung zur Massageliege gegangen und ließ sich nun geräuschvoll auf ihr nieder. »Mit was für einem Köder hat der Staatsapparat Sie gelockt?«
Köder? Wenn du wüsstest, wie nah du an der Wahrheit bist,
dachte Alina, und ihr Widerwillen gegen diesen Mann wurde noch größer.
»Wenn ich diese Bestie behandle«, hatte sie Stoya zum Abschied gefragt, »bekomme ich dann endlich das, was Sie mir versprochen haben?«
Geben Sie mir das Tonband?
Der Kommissar hatte schon bejaht, bevor sie den Satz vollendet hatte.
»Um es ein für alle Mal klarzustellen, Herr Suker: Sie haben meine Augen sehen dürfen, und das war’s. Ich würde ab sofort gerne auf jede Unterhaltung mit Ihnen verzichten.«
»Wollen Sie denn meine Diagnose gar nicht
Weitere Kostenlose Bücher