Der Augenjäger / Psychothriller
hören? Ihre Augen zu studieren war wirklich aufschlussreich.«
Alina trat an die Liege. »Nein danke, ich bin nicht interessiert.«
Sie fuhr mit ihrer Hand an der Polsterkante der Pritsche entlang, bis sie am Fußende angelangt war. Dann streifte sie sich den Halbschuh vom rechten Fuß.
»Auch nicht, wenn ich Ihnen einen Handel vorschlage? Halt, nein, sagen Sie bitte nichts, hören Sie mich einfach nur an, ja? Zuhören ist ja keine Unterhaltung.«
Alina seufzte genervt, was Suker offenbar als Zustimmung wertete.
»Sie müssen eines über mich wissen, Alina. Egal, was Stoya sagt, egal, was die Presse schreibt: Ich liebe Augen. Nicht die smaragdfarbenen, funkelnden, oft mit Diamanten oder Sternen verglichenen austauschbaren Dinger, die uns in Werbeprospekten entgegenblitzen.
Gesund
und
hübsch
sind doch nur Synonyme für
langweilig,
finden Sie nicht? Ich bin auf der Jagd nach wahrer Schönheit. Nach dem Außergewöhnlichen, Einmaligen, Seltenen. Und in der Natur bedeutet Einzigartigkeit immer eine Anomalie, haben Sie darüber schon mal nachgedacht, mein Kind?«
»War’s das?«
»Jetzt, da ich Ihre wunderschönen, anormalen Augen betrachten durfte, bin ich mir sicher, dass Sie für den Eingriff in Frage kommen. Wenn Sie mögen, Alina, wenn Sie wieder sehen wollen, werde ich Ihnen mit nur zwei Operationen das Augenlicht zurückgeben. Und das, ohne Ihnen eine überteuerte Rechnung zu stellen. Es wird für Sie kostenlos geschehen. Alles, was Sie tun müssen, besteht darin, hier und jetzt auf die Gegenleistung zu verzichten, die ich Ihnen versprochen habe.«
»Ich soll Sie nicht massieren?«
Wie gerne wäre Alina auf den Vorschlag eingegangen, ihn nicht anfassen zu müssen. Aber dann würde Stoya sich auch nicht an seinen Teil der Abmachung halten, und sie würde nie erfahren, was genau in Zorbachs letzten Sekunden auf dem Gastanker geschehen war.
Und ich hätte mich völlig umsonst einem Psychopathen geöffnet.
»Das ist das Angebot.« Suker flüsterte auf einmal.
»Angebot abgelehnt. Bitte setzen Sie sich so, dass Sie die Wand anschauen. Aufrecht und mit dem Rücken zu mir.«
Suker seufzte. »Wie Sie wünschen, Madame.«
Den Geräuschen nach tat der Augenarzt, wie ihm geheißen, was Alina die Möglichkeit verschaffte, sich den Ballen ihrer linken Hand in den Mund zu stecken, ohne dass Suker dies sehen konnte.
»Es ist Ihre Entscheidung. Ich kann Sie nicht zu Ihrem Glück zwingen, nicht wahr, mein Kind?«
Sie hielt die Luft an, zog das Bein nach hinten und ließ es mit einem Ruck nach vorne schnellen. Ihre eingekrümmten Zehen prallten frontal auf das Metallbein der Liege. Der Schmerz schoss ihr durch das gesamte Bein, und für einen unendlich langen Moment spürte sie nichts anderes mehr. Die Explosion im Fuß, deren Druckwelle durch den gesamten Körper rasen wollte, hätte sie aufschreien lassen, aber die Hand in ihrem Mund ließ nur ein ersticktes Stöhnen zu. Schweiß trat ihr auf die Stirn, und Alina wurde übel. Dann fing sie an zu arbeiten.
11. Kapitel
G
eblendet.
Das war jedes Mal Alinas erster, unsinniger Gedanke, wenn es losging und der Kugelblitz von innen gegen ihre Augen rollte. Ein Blitz, der die allgegenwärtige Dunkelheit, in der sie lebte, durch ein helles, gleißendes Licht ersetzte.
Meist setzte dieser schmerzhafte Vorgang eine Assoziationskette frei, die mit der Erinnerung an eine Garage begann, in der sie als Dreijährige nach leeren Einweggläsern in den Regalen gesucht hatte, um mit ihrer gleichaltrigen Nachbarsfreundin Matschepampe für eine Sandburg herzustellen. Sie wohnten noch nicht lange in dem Vorort jener kalifornischen Kleinstadt; ihr Vater hatte erst kürzlich eine Stelle als Bauingenieur bei einem Staudammprojekt angetreten, und bislang war noch niemand dazu gekommen, die Garage zu entrümpeln. Niemand wusste daher von dem Kalziumkarbid in den Gläsern des Vorbesitzers, das mit einer lauten Explosion verpuffte, als die kleine Alina Wasser einfüllte.
Geblendet.
Alina unterdrückte ihren natürlichen Instinkt, der ihr befahl, sofort die Hände von Sukers Schultern zurückzuziehen, bevor das Licht wieder so grell wurde wie jenes, das ihr als Kleinkind die gesamte Hornhaut verbrannt hatte.
Noch war es viel zu früh, um die Behandlung abzubrechen. Noch sah sie keine Bilder, hörte noch nicht einmal Stimmen, obwohl die akustischen Visionen immer als Erstes einsetzten, sobald es geschah.
Falls
es geschah.
Früher hatte sie gedacht, es passierte nur bei bestimmten
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