Der Augenjäger / Psychothriller
ihren Namen zu ändern, so wie sie es schon einmal getan hatte, um ungestört weiterleben zu können.
»Ich gebe Ihnen einen Rat, Frau Strom. Gehen Sie zur Polizei.«
»Da war ich doch längst. Aber die haben auch gesagt, Nicola wäre eine Ausreißerin.«
Die Frau hustete, als hätte sie sich verschluckt.
»Aber ich glaube das nicht. Nicola ist sechzehn. Gut, da macht jedes Kind Ärger, gerade wenn es Probleme gibt, also zu Hause, meine ich. Doch sie war ziemlich brav, wenigstens bei ihrem Vater. Wenn Christian sagte: ›Nicola, du bist um Mitternacht zu Hause‹, kam sie immer fünf Minuten früher. Und nie war was mit Jungen, sie ist noch Jungfrau. Glaub ich zumindest, mit mir hat sie ja nie darüber …«
»Haben Sie der Polizei denn nicht das Foto von ihr gezeigt?«, unterbrach Alina.
»Konnte ich nicht.«
»Wieso das?«
»Es ist nicht mehr da. Ja, ja. Ich weiß, wie sich das anhört, ist aber so. Das war ein Polaroid, aber kein echtes. Spezialbehandelt, irgendwie mit einem Trick oder so. Ich kenn mich nicht aus. Hab es nicht so mit Technik, darum hat sich bei uns zu Hause immer Christian gekümmert. Das Bild hat sich selbst verflüchtigt, nur wenige Sekunden, nachdem er fort war.«
»Er?«
Erst jetzt fiel Alina auf, dass sie noch nicht gefragt hatte, wie Johanna Strom überhaupt an dieses ominöse Beweisfoto gekommen sein wollte.
»Der ältere Mann, er gab es mir im Garten der Nervenklinik. Er sah so nett aus, aber das war er nicht. Er war auch kein Patient, sondern böse. Er war ein Monster, denn er war ja mit drauf auf dem Foto. Da war nicht nur Nicola mit diesen Klammern in den Augen, sondern er stand direkt daneben, neben dem Chirurgenbett, an das sie gefesselt war. Nennt man das so? Wie nennt man die Betten, im Operationssaal, meine ich. Chirurgenbetten? Oh Gott, Sie denken, ich bin wirr im Kopf, richtig?«
»Es tut mir leid«, wich Alina aus. »Es tut mir aufrichtig leid, aber ich erwarte gleich einen Patienten.«
Den Geräuschen nach war Johanna Strom nun ebenfalls im Begriff aufzustehen, was sie aber nicht daran hinderte, weiter auf Alina einzureden.
»Ich kannte sein Gesicht ja gar nicht, als er mich im Klinikpark ansprach, woher auch, hab in der Anstalt ja kaum Fernsehen geschaut. Keine Zeitung gelesen. Aber als er Monate später verhaftet wurde, fiel er mir auf. So freundlich, so altmodisch und nett. ›Das ist der Kerl!‹, hab ich geschrien und auf den Fernseher im Aufenthaltsraum gezeigt. Da haben alle nur gelacht. Hat mir ja keiner geglaubt, die Geschichte von dem Mann im Park mit dem Foto. Diesem schrecklichen Foto. Er sagte, das wäre die gerechte Strafe für das, was ich getan hätte. Aber ich weiß überhaupt nicht, was ich mir habe zuschulden kommen lassen. Ich hatte einen Nervenzusammenbruch, nachdem er mir das grässliche Bild gezeigt hat. Einen Zusammenbruch.«
Eine unangenehme Vorahnung beschlich Alina. »Der Mann, der Ihnen das Foto gegeben hat …«
Im Park einer Nervenheilanstalt. Ein Foto, das sich in Luft aufgelöst haben soll.
»… reden wir hier etwa über Zarin Suker?«
Eine Weile war es still in Alinas Wohnzimmer. Nur das Rauschen des Verkehrs von der Brunnenstraße fand seinen Weg in den Altbau unter das Dach, bis Johanna Strom schließlich antwortete, indem sie wieder hemmungslos zu weinen begann.
10. Kapitel
I ch danke Ihnen sehr, mein Kind.«
Derselbe Behandlungsraum, dieselbe Stimme. Nur die Übelkeit, die Alina überfiel, wenn sie daran dachte, was sie gleich zu tun beabsichtigte, war anders. Sie war schlimmer.
Sie tastete nach ihrer Sonnenbrille, die sie vor zehn Minuten mit einer hastigen Bewegung abgenommen hatte, und setzte sie wieder auf.
Seltsamerweise hatte Alina keine Probleme damit, sich Fremden nackt zu präsentieren. Jemandem einen so nahen Blick auf ihre trüben, zerstörten Augen zu gewähren, empfand sie hingegen als einen höchst intimen Eingriff. Zu Beginn hatte Suker bedauert, seine Instrumente nicht zur Verfügung zu haben, dann hatte er kein Wort mehr gesprochen, sondern leise gesummt, während er ihre Augen studierte. Jetzt, da er endlich fertig war, fühlte sie sich beschmutzt und wäre am liebsten duschen gegangen.
»Weshalb haben Sie es sich anders überlegt, Alina?«
Ohne es zu wissen, stellte Suker die gleiche Frage, mit der Stoya sie vor einer guten Stunde in seinem Büro empfangen hatte. Allerdings hatte der Leiter der sechsten Mordkommission dabei längst nicht so arrogant und selbstgefällig geklungen wie der
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